Zumutungsgemeinschaft
Von Reinhard Lauterbach
Treue Leser dieser Kolumne erinnern sich vielleicht daran, dass am Donnerstag vor einer Woche die FAZ Abschiebungen abgelehnter Asylsuchender zum Ausweis einer »ausgewogenen Migrationspolitik« erklärt hat. Eine Woche später ist es im selben Blatt genau andersherum. Auf Seite drei beklagen Marlene Grunert und der frühere Moskau-Korrespondent Friedrich Schmidt lautstark die Abschiebung einer tschetschenischen Familie mit abgelehntem Asylantrag aus Brandenburg nach Georgien. Nicht irgendeiner Familie, sondern derjenigen des Bruders des 2019 im Berliner Tiergarten erschossenen ehemaligen Guerillakämpfers Selimchan Changoschwili, seiner zwei Ehefrauen und »mehrerer Kinder«. Um den Appell an die Bundesregierung zu begründen, den Abgeschobenen wieder einreisen zu lassen, zitiert der Artikel einen Abgeordneten der Grünen, der wiederum auf das Ausländergesetz verweist: Die Aufenthaltsgenehmigung »ist zu erteilen«, wenn das Bundesinnenministerium oder die von ihm bestimmte Stelle »zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland die Aufnahme erklärt hat«. Wie das halt so ist mit den »politischen Interessen der Bundesrepublik Deutschland« – jetzt überwiegt für die FAZ-Autoren offenkundig das Interesse, aus der Abschiebung nach Georgien einen Punkt gegen Russland zu machen, dessen langer Arm dorthin reiche. Dann muss halt auch einem Mann, der sich entgegen dem deutschen Familienstandsrecht zwei Ehefrauen hält, die Bigamie vergeben werden. Wir sind ja liberal.
Es ist aber nicht so, dass in der FAZ nur Unsinn stünde. Am Mittwoch brachte sie auf Seite eins die Zusammenfassung aus einer »internen Studie der Linkspartei« über die Struktur der eigenen Mitgliedschaft. Demnach sind die Anhänger der Linken heute sozial eine Kopie der Grünen von einst: hoher Anteil von Akademikern, weit überrepräsentiert die Bereiche Bildung und Pflege, IT und Medien; eher unterbelichtet alle Bereiche, die mit der Realwirtschaft zu tun haben. Wie die Studie in die Hand der FAZ gekommen ist, kann man sich denken: Jemand aus der Parteispitze muss sie der Zeitung zugespielt haben. Vermutlich mit dem impliziten Ziel, zu zeigen, dass die Linke doch heute gar nicht mehr der Verein ostalgischer Rentner und DDR-Waisen sei, als der sie von manchen immer noch wahrgenommen wird. Also »angekommen«. Daniel Deckers kommentiert nicht einmal unzutreffend: Das verdanke die Partei der »Abspaltung ihres linksnationalistischen Flügels«. Aber der Erfolg habe seinen Preis: »Das wiederum macht die Linke gerade im Osten für viele unwählbar, die sich sozioökonomisch auf der Verliererseite und soziokulturell als Opfer eines von urbanen, akademisch gebildeten Eliten dominierten Diskurses sehen. (…) Die ›Verdammten dieser Erde‹ sind ihnen nicht weniger fremd als den Grünen schon immer und weiten Teilen der SPD mittlerweile auch.« Wie rührend, dass ausgerechnet die FAZ auf einmal ihr Herz für die Armen und Ausgegrenzten entdeckt. Nur: Was wollen sie in Frankfurt eigentlich? Eine politisch entkernte Wohlfühllinke oder eine Partei, die das leisten kann, was die »Volksparteien« nicht mehr schaffen: der AfD das Wasser abzugraben?
In der Süddeutschen Zeitung bricht unterdessen am Dienstag Georg Ismar die nächste Lanze für die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht. Die Freiwilligkeit werde sowieso nicht funktionieren, da hätte man den Zwang zum Einrücken doch gleich mitbeschließen können. »Als Vorbild können hier osteuropäische und nordische Länder dienen. Sie sind deutlich weiter und muten ihren Bürgern mehr zu. Zu Recht.« Der Staat als Zumutungsgemeinschaft. Das ist gefährlich nahe an der Wahrheit.
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