»Sie konnte nur dicht bei ihrer Mutter sitzen oder schreien«
Interview: Dieter Reinisch
Derzeit herrscht in Gaza ein fragiler Waffenstillstand, der regelmäßig verletzt wird. Wie schätzen Sie die Lage derzeit ein?
Es ist sehr schwer einzuschätzen, in welche Richtung es gehen wird. Ich möchte nur, dass meine palästinensischen Kollegen, die völlig erschöpft sind, die nur noch hoffen, dass sie abends ins Bett gehen können, ohne dass eine Bombe einschlägt, die hoffen, dass sie in die Klinik gehen können, ohne die Unsicherheit, ob sie ihre Kinder danach am Nachmittag noch lebend sehen werden, eine ruhigere Zeit haben. Es ist die Hoffnung, die durch diesen Waffenstillstand etwas stärker wird. Aber es gibt auch eine große, große Sorge. Alle versuchen in diesen ruhigeren Tagen etwas Luft zu holen, aber gleichzeitig halten sie die Luft an, da sie schon verunsichert sind und fürchten, dass der Krieg wieder zurückkommt. Bis jetzt war es sowieso nur die Hälfte von Gaza, wo derzeit keine Bomben fallen. Die Unruhe ist sehr groß, und das ist eine große Belastung für die, die dort leben müssen. Neuanfang und Wiederaufbau sind derzeit nicht möglich. Zurück nach Nordgaza zu gehen, um zu schauen, ob man etwas retten kann, ist auch gefährlich. Die Leute schwanken sehr, aber sie hoffen natürlich, dass irgendwann etwas entsteht, das wieder einem normalen Leben ähnelt.
Sie waren selbst zweimal in Gaza, haben ein Buch über Ihren Aufenthalt geschrieben.
Ja, im August und im September des vergangenen Jahres und abermals im Januar und Februar dieses Jahres. Mein Buch handelt von meinem ersten Aufenthalt im Jahr 2024.
Ihr Buch beginnt damit, dass Sie Briefe an Ihre Familienangehörigen schreiben, für den Fall, dass Sie nicht zurückkommen. Wieso entscheidet man sich dafür, sich in eine derartige Lage zu bringen?
Ich bin mit Geschichten über den Krieg aufgewachsen. Meine Mutter wurde 1942 in Deutschland geboren. Sie war ein Kriegskind. Das hat mich geprägt, aber am meisten hat mich die Frage umgetrieben: Wie konnten wir? Wie konnte eine Gesellschaft zulassen, dass Nachbarn zuerst interniert wurden und dann verschwanden? Man wusste damals nicht so genau wie heute, was geschieht: Heute wissen alle Bescheid. Dann wurde mein Bruder 1974 aus Vietnam adoptiert, also während des Vietnamkrieges. Er war vom Krieg sehr geschädigt. Damals gab es die Analyse »posttraumatische Belastungsstörung« noch nicht. Wir haben verstanden, dass er viel Angst hatte, aber was das mit ihm macht, haben wir damals nicht verstanden. Jetzt als Traumatherapeutin verstehe ich natürlich viel mehr. Für mich fühlt es sich wie eine Verpflichtung an, Menschen in ähnlicher Lage zu helfen. Ich selbst aber bin ein Glückspilz. Ich bin aufgewachsen und lebe in einem Land, in dem es Frieden gibt. Ich habe eine Ausbildung bekommen, mit der ich weiß, dass ich helfen kann, und seit zehn Jahren arbeite ich nun für Ärzte ohne Grenzen. Ich weiß also, wie man in Krisengebieten arbeitet, halte es zum Glück auch aus. Das heißt aber nicht, dass ich nicht ab und zu Angst habe.
Sie hatten bereits Erfahrungen mit Einsätzen in Moria und im Westjordanland gemacht, aber beim Lesen des ersten Kapitels Ihres Buchs, vor allem die Passage über die Fahrt durch den Grenzkontrollpunkt nach Gaza hinein, gewinnt man den Eindruck, dass Sie von dem, was Sie gesehen haben, erschüttert waren.
Es war auf jeden Fall ganz anders, als ich erwartet hatte. Ich befand mich zum ersten Mal in einem richtigen Krieg. Im Westjordanland, in Dschenin war es schon schlimm, viele Militärfahrzeuge auf den Straßen, vor allem nachts, aber das hat mich nicht direkt betroffen. Ganz anders war Gaza: Die komplette Zerstörung am Grenzposten, und dann auf dem ersten Kilometer, als wir nach Khan Junis hineingefahren sind, hatte ich nicht so eine völlige Zerstörung erwartet. Überall, wo man sonst auf der Welt ist, ist immer irgend etwas, das sich bewegt: ein Blatt, ein Gras. Aber dort ist es einfach ganz tot; es ist nichts mehr da. Das hatte ich nicht erwartet. Ich hatte Trümmer erwartet, wie man sie im Fernsehen sieht. Aber der Umfang dieser Zerstörung ist enorm. Ich war nun das zweite Mal dort und man gewöhnt sich an die Zerstörung, man ist nicht mehr so erschüttert davon. Aber dennoch: Dass tatsächlich 80 Prozent eines ganzen Landstrichs zerstört sind, das geht einfach nicht in meinen Kopf rein. Es ist immer noch unfassbar für mich.
Wie wird man von Ärzte ohne Grenzen auf so eine Situation vorbereitet?
Ich würde niemandem, der nicht viel Erfahrung hat, empfehlen dort hinzufahren. Neue Angestellte dürfen auch gar nicht nach Gaza. Man muss sich sicher sein, dass man das, man dort erfährt, auch verkraften kann. Man muss vor allem ertragen können, dem Leid so nahezukommen. Man muss aber gleichzeitig auch die Sicherheitsroutinen uneingeschränkt akzeptieren. Als ich in Ägypten arbeitete, konnte ich am Wochenende die Pyramiden besuchen oder ans Rote Meer fahren, aber in Gaza geht so etwas nicht. Was die Vorbereitung angeht: Zu Beginn ist es ein Dialog mit Ärzte ohne Grenzen. Sie fragen dich, wenn sie der Meinung sind, dass du genügend Erfahrung hat. Dann muss jeder für sich entscheiden, ob er das will oder nicht. Wenn man es will, gibt es anschließend sehr viele Briefings. Ärzte ohne Grenzen schickt Menschen seit 50 Jahren in Kriegs- und Krisengebiete. Es gibt feste und bewährte Sicherheitsroutinen. Es wird einem klargemacht, dass man sich möglicherweise in Lebensgefahr begibt, da Sicherheit nie vollständig garantiert werden kann. Zwei Kollegen, darunter ein Orthopäde, der mir sehr nahestand, sind erst vor ein paar Wochen gestorben. Sie standen mit Ärzte-ohne-Grenzen-Westen an einer Bushaltestelle und haben auf den Transport in die Klinik gewartet. Sie wurden von einer Rakete getroffen und beide getötet. Wenn man sich dafür entscheidet, dort hinzufahren, darf man an solche Situationen nicht denken. Man muss bereit sein, die Gefahr auf sich zu nehmen.
Es gibt also keine Schutzgarantie?
Es gibt keinen sicheren Ort in Gaza. Wir haben in der sogenannten humanitären Zone gelebt. Die Leute werden aufgefordert, dorthin zu flüchten. Aber auch dort fallen Bomben ohne Vorwarnung. Die letzte Nacht, bevor ich nach Hause fuhr, schlug eine Bombe nur ein paar hundert Meter weit weg ein. Es trifft die palästinensische Bevölkerung und meine palästinensischen Kollegen viel härter. Über 1.700 medizinische Kollegen sind bisher umgekommen. Es macht ein schlechtes Gefühl, dass wir als Internationale dennoch ein wenig mehr Schutz haben. Wir informieren alle kämpfenden Kräfte, IDF, Hamas und alle anderen, wo wir wohnen, wo wir arbeiten, in welche Kliniken wir fahren. Die israelische Seite weiß zu jedem Zeitpunkt genau, wo wir sind. Es scheint, dass wir einen größeren Schutz genießen, denn es sind, soweit ich weiß, sieben internationale Helfer getötet worden; alle anderen Helfer waren Palästinenser. Es ist ein ziemlich ungutes Gefühl zu wissen, dass unser Leben geschützter und mehr wert ist als das unserer Kollegen. Ich wünschte, es wäre nicht so und wir alle würden denselben Schutz genießen. Und nach dem Völkerrecht sollte das auch so sein.
Wie funktioniert die Arbeit in Gaza?
In meinem Fall gibt es ein Team von 18 Sozialpsychologen und Sozialarbeitern. Derzeit haben wir 1.000 palästinensische und 30 internationale Angestellte in Gaza. Die Kontinuität, die der wichtigste Teil unserer Arbeit ist, wird von den lokalen Mitarbeitern sichergestellt. Wir kommen, um diese Teams zu unterstützen. Die Arbeit in Gaza verläuft ganz anders als in anderen Regionen. Es gilt, das Team psychologisch zu unterstützen; denn auch die einheimischen Kollegen sind Opfer dieses Krieges. Auch sie mussten fliehen. Auch sie haben alles verloren. Auch sie gehen nachts ins Bett und wissen nicht, ob sie am Morgen noch am Leben sind. Das ist extrem belastend. Daher ist es an uns, die von außen kommen und nur für einen begrenzten Zeitraum dort sind, diese Teams zu unterstützen und ihnen einen Teil der Last zu nehmen, damit sie wieder zu Kräften kommen. Ärzte ohne Grenzen hat es seit Kriegsbeginn so gemacht, dass alle Angestellten ihr Gehalt bekommen, egal, ob sie zur Arbeit kommen oder nicht. Sie könnten also zu Hause bleiben, aber sie tun es nicht. Ich bewundere ihre Stärke. Ich habe eine unterstützende Funktion, mache Pläne: Was brauchen wir weiter? Wie kann das Team unter den herrschenden Bedingungen so gut wie möglich fachlich arbeiten? Aber ich arbeite auch mit Kindern. Was die Kinder vor allem brauchen, ist Frieden, damit sie nicht jede Minute an jedem Tag Todesangst haben müssen. Dazu bräuchten sie eine viele umfassendere Traumatherapie, aber das können wir nicht bieten, weil die Lage zu instabil ist.
Was können Sie dann bieten?
Ein Kind, das stark traumatisiert ist, hat ein Nervensystem, das auf Hochspannung läuft und immer überaktiviert ist. Dadurch kann sich das Kind schlecht entspannen, es schläft schlecht. Diese Kinder können nicht mit dem Rücken zur Tür stehen, weil sie immer darauf achten müssen, wegrennen zu können, da sie nicht wissen, was als nächstes passiert. Dadurch wird die Normalentwicklung der Kinder gebremst. Der letzte Teil, der sich im Gehirn eines Kindes entwickelt, ist der präfrontale Cortex, also der für das Gedächtnis zuständige Teil. Bei Mädchen ist er mit 18, bei Jungen mit 20 voll entwickelt. Wenn man ständig in Lebensgefahr ist, entwickelt sich dieser Teil des Gehirns nicht normal. Dadurch entstehen kognitive Kriegsschäden. Die Kinder verlieren die Fähigkeit, einen Tag zu planen, eine komplizierte Aufgabe so zu lösen, lernen nicht, Impulsen zu widerstehen. Wenn wir den Kindern Pausen ermöglichen, in denen sich das Nervensystem entspannen kann, können wir eine normale Entwicklung unterstützen. Spielen, Lächeln, Seifenblasen machen – das sieht vor dem Hintergrund der Kriegszerstörungen irritierend aus, es ist aber sehr wichtig für die Kinder, um eine Pause von ihrem Leid zu bekommen, was für ihre spätere Entwicklung wichtig ist. Ich fahre nirgendwo mehr ohne meine Seifenblasen hin. Es ist bei Kindern wie bei Erwachsenen: Wenn man Seifenblasen bläst, fangen die Leute an zu lächeln. Das Nervensystem ist mit inneren Organen verbunden: Wenn ich ein Lächeln sehe, beruhigt sich mein Herz, es schlägt langsamer, die Verdauung verbessert sich, der Blutstrom normalisiert sich, man atmet langsamer. Durch die Seifenblasen verbessert sich vor allem die Atmung. Wenn man gestresst ist, atmet man viel durch die Brust. Der Körper weiß, dass Gefahr da ist; es ist eine Fluchtvorbereitung und man kann sich nicht entspannen. Aber wenn man tief durch den Bauch atmet, entspannt man sich; das kann man messen. Um richtig gute, große Seifenblasen machen zu können, muss man richtig tief durchatmen. Bei gestressten Kindern ist das sehr schwierig, aber wenn man das spielerisch angeht mittels Seifenblasen, dann atmen sie besser. Es geht also darum, wie man Kinder dazu bringen kann, besser zu atmen und nicht nur Angst zu haben, nur Stress zu haben, nur zu schreien. Die Kinder können in diesen Momenten wieder Kinder sein.
Die Seifenblasen sind der rote Faden Ihres Buchs. Aber was kann Ihre Arbeit angesichts der kurzen Zeit des Aufenthalts tatsächlich bewirken?
Was wir anbieten, ist viel mehr als nichts. Die kleine Maria, die ich beim zweiten Aufenthalt kennengelernt habe, hatte an den Beinen überall Brandwunden durch die Hitzeentwicklung beim Einschlag einer Bombe. Sie hat die ganze Zeit nur geschrien. Die Brandwunden sind sehr schmerzhaft. Sie hat jedes Mal geschrien, wenn sie jemanden vom Krankenhauspersonal gesehen hat. Sie konnte nicht schlafen oder spielen. Sie konnte nur dicht bei ihrer Mutter sitzen oder schreien. Ich habe mehrmals am Tag den Kopf durch die Tür in ihr Zimmer gesteckt und leise gesprochen, damit sie merkt, dass sie keine Angst vor mir haben muss. Nach einer Woche durfte ich ins Zimmer kommen und nach langer Zeit hat sie die Seifenblasen angenommen und gepustet. Das war das erste Mal in vier Monaten, dass sie gelächelt hat und sich wieder entspannen konnte. Aber die meisten Patienten sind nach einer Woche wieder weg. Wir wissen nicht, was mit ihnen geschieht. Viele müssen wieder flüchten. Wir arbeiten sehr kurzfristig. Aber wir arbeiten auch mit den Eltern zusammen, und die lernen, wie sie ihre Kinder in Zukunft beruhigen können. Ich hatte nach der Behandlung noch einige Zeit Kontakt mit der Mutter von Maria und sie sagte mir, Maria spielt wieder, sie schläft wieder, sie schreit nicht die ganze Zeit. Das sagt wahnsinnig viel über ihre Zukunft aus. Obwohl sie immer noch Brandwunden hat und im Krieg lebt, ist ihre Aussicht auf eine Entwicklung und eine bessere Zukunft durchaus da. Es muss in jeder Situation Hoffnung geben, und ich habe immer Hoffnung, dass sich die Lage zum Besseren verändert.
Wie geht Ihre Familie mit Ihrer Arbeit um?
Für meine Familie ist es sehr schwer. Sie ist meine Arbeit gewohnt, und mein Mann hat ähnliche Erfahrungen, da er humanitäre Arbeit im Libanon leistet. Meine Kinder sind zum Glück schon erwachsen, aber dennoch ist es nicht einfach. Das Leben mit mir ist sehr schwierig, denn auch zu Hause in Norwegen vergleiche ich nun alles mit Gaza. Egal was wir machen und unternehmen, ich vergleiche es mit dem Leben, das die Menschen in Gaza haben.
Katrin Glatz Brubakk ist deutsch-norwegische Kinderpsychologin, die sich auf Traumata spezialisiert hat, und eine Verfechterin der Rechte von Flüchtlingen. Sie arbeitet seit mehreren Jahren für Ärzte ohne Grenze und lebt mit ihrer Familie in Trondheim. Zuletzt erschien von ihr »Tagebuch aus Gaza« (Westend, 2025). Gemeinsam mit Guro Kulset Merakerås und Daniela Stilzebach schrieb sie »Inside Moria« (Westend, 2024). In den kommenden Monaten beabsichtigt sie, ein drittes Mal nach Gaza zu reisen, um dort als Kinderpsychologin zu arbeiten
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