Galopp eines Pferdes
Von Marc Hieronimus
Comics in Buchformat fordern Lesepausen, auch ganz passable Werke. Selten, dass man ein Buch nicht aus der Hand legen mag, weil es so gut ist, seltener noch, dass man sich zur Unterbrechung zwingt, um später noch ein bisschen was davon zu haben. Guy Delisle schafft nur in diesen Kategorien. Keiner seiner Comics ist schlecht oder langweilig, man ist nur unterschiedlich traurig, wenn man die letzte Seite aufschlägt.
Früher war Delisle als Lehrer und Aufseher in der Animation unterwegs oder hat seine Frau auf mehrmonatigen Einsätzen für »Ärzte ohne Grenzen« (Médecins Sans Frontières, MSF) in Krisenregionen begleitet. So entstanden seine anekdotischen Reisebücher über Pjöngjang, Birma, Shenzhen und Jerusalem. Autobiographisch-humorvoll ging es mit einem Ratgeber für schlechte Väter und einem Buch über drei Studentensommer in der Papierfabrik weiter, in der auch sein Vater als technischer Zeichner arbeitete. Dazwischen hat er mit »Geisel« (2017) erstmals nicht mehr seine eigene, sondern die Geschichte eines MSF-Mitarbeiters nachgezeichnet, der Ende der 1990er von tschetschenischen Separatisten entführt und 111 Tage gefangen gehalten wurde.
Mittlerweile dürfte der etablierte Künstler die lesenswertesten Histörchen seines Lebens auserzählt haben, und die Leserin durfte gespannt sein, welchen Stoff er als nächsten behandeln würde. Seine Wahl fiel auf Leben und Werk des Fotografiepioniers Eadweard Muybridge. Der Name klingelt nicht in jedermanns Ohr, aber einige seiner Aufnahmen sind weltberühmt. Als junger Auszubildender ist auch Delisle auf einen seiner Bände gestoßen, hat ihn dann aber für lange Zeit vergessen.
Muybridge wurde 1830 in Kingston upon Thames geboren und ist 1904 ebendort gestorben. Dazwischen lag ein »bewegtes« Leben, wie es im Untertitel heißt. Mit zwanzig ging er in die USA, arbeitete in San Francisco als Buchhändler, verunglückte mit einer Kutsche, kurierte seine Kopfverletzungen in England aus, kehrte dann aber zurück nach Amerika und begann zu fotografieren. Das war damals noch eine logistische Herausforderung; Fotografen mussten Chemiker sein und waren mit viel Ausrüstung unterwegs. Muybridge reiste, erklomm gefährliche Felsen, fällte Bäume für seine Aufnahmen. Er fotografierte Natur, Leuchttürme, Ureinwohner und San Francisco vor dem Erdbeben. 1874 erschoss er den Liebhaber seiner Frau, wurde aber trotz Schuldeingeständnis freigesprochen.
Berühmtheit erlangte er einige Jahre später durch Bewegungsaufnahmen. Mit Ehrgeiz, Ideenreichtum, technischem Geschick und nicht zuletzt viel Geld des Eisenbahnunternehmers und späteren Universitätsgründers Leland Stanford gelang es ihm, den Galopp eines Pferdes in einer Fotoreihe festzuhalten. Stanford reklamierte die Bilder für sich, und Muybridge galt als Plagiator. Aber einmal die Technik perfektioniert, hielt er allerlei Tiere und (meist nackte) Menschen in Bewegung auf mehr 20.000 Bildern fest und kam spät im Leben doch noch zu Ansehen und Wohlstand.
Es waren diese heute noch in Buchform erhältlichen und jedem Zeichner, jeder Malerin zu empfehlenden Aufnahmen, mit denen Delisle als junger Mann sein Handwerk gelernt hat. Muybridge ersann sogar einen Apparat, um die Bilder in Bewegung zu versetzen: das Zoopraxiskop, ein Vorläufer des Kinematographen. Mit dessen Aufkommen und den ersten dokumentarischen, dann fiktionalen Filmen endet das Buch – leider! Muybridge starb nun mal, als das Kino gerade erst begann. Aber Delisle erzählt ja nicht nur seine, sondern auch die Geschichte der Fotografie und illustriert sie mit Reproduktionen der berühmtesten Lichtbilder, beginnend mit Nicéphore Niépces Hinterhof von 1827 und Daguerres Boulevard du Temple von 1837 bis hin zu den ersten Apparaten und Filmen von Edison, Lumière und Mélies.
Passend zur Fotografie ist der Comic fast durchgehend in Grautönen gehalten. Der Autor und Zeichner hat sich viel Mühe gemacht, Architektur, Kleidung und Technik des 19. Jahrhunderts im Rahmen des ihm eigenen, gegenüber den Reisebüchern noch einmal weiterentwickelten Stils getreu wiederzugeben, der die Gesichter auf wesentliche Züge und Ausdrücke beschränkt, aber Wert auf das Dekor legt. Schade, schon ausgelesen!
Guy Delisle: Für den Bruchteil einer Sekunde. Das bewegte Leben von Eadweard Muybridge. Reprodukt-Verlag, Berlin 2025, 208 Seiten, 26 Euro
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