Eine Erfindung ohne Zukunft
Von F.-B. Habel
Zu Beginn des trüben Monats November kann das Licht gefeiert werden, denn am 1. November haben die Lichtspiele Geburtstag. Das erste Lichtspieltheater stand 1895 in Berlin und war eigentlich ein Varieté. Hier wurden weltweit erstmalig Filme öffentlich vorgeführt, wenn auch nur im Rahmen der Nummern des Programms im Varieté »Wintergarten« an der Friedrichstraße. Die kleine Sensation (»Wie er das macht, das soll der Teufel wissen«, schrieb die Presse damals), deren weitere Entwicklung damals noch nicht abzusehen war, stammte von den Berliner Brüdern Max und Emil Skladanowsky. Sie waren die Söhne des Handwerkers Carl Skladanowsky, der mit der Laterna Magica Vorträge hielt. Der älteste Bruder Eugen ging früh zum Zirkus, wo er bei »Renz« als Clown und in verschiedenen artistischen Nummern arbeitete. Er sollte bei seinen Brüdern später ab und an vor der Kamera stehen. Der findigste Kopf unter den drei Brüdern war Max, der drei Lehren abschloss: als Fotograf, Glasmaler und Theaterapparatebauer.
Seit der Erfindung der Photographie um 1826 durch den Franzosen Joseph Niépce bemühten sich Erfinder und Tüftler in vielen Ländern um die Weiterentwicklung des neuen Mediums und träumten davon, Bilderfolgen herzustellen, die bei der Betrachtung den Eindruck der Bewegung erweckten, anfangs noch als Phasenfotografien. Um die Anmutung einer Bewegung zu verbessern, wurden Guckkästen entwickelt, in denen das Einzelbild in schneller Folge ruckweise transportiert wurde. Der berühmte US-amerikanische Erfinder Thomas Alva Edison war der erste, der dieses Verfahren industriemäßig verwendete. 1893 errichtete er in West Orange das erste Filmstudio der Welt. Allerdings konnte mit den Apparaten immer nur eine Person den Film betrachten.
Max und Emil Skladanowsky drehten mit Hilfe einer eigens umgebauten Kodak-Kamera Phasenbilder, die sich jedoch nicht projizieren ließen. Dann, um die Jahreswende 1894/95 kam Max Skladanowsky der große Einfall. Er hatte sich einen intermittierenden Schaltmechanismus ausgedacht, mit dem es möglich wurde, das Filmbild vor dem Lichtkanal des Projektors momentweise stehen zu lassen, um einen getreuen Bewegungseindruck wiederzugeben.
Beide Brüder gingen im Sommer 1895 daran, kurze Filme zu drehen, wobei sie ein Freund unterstützte, der Fotograf Wilhelm Fenz, der ein Atelier an der mittlerweile als »Ecke Schönhauser« bekannten Kreuzung betrieb. Sowohl die Aufnahmen mit Artisten, Kindern und Tieren (das »boxende Känguruh« wurde sprichwörtlich) als auch die erste Probevorführung vor den Direktoren des »Wintergartens« entstanden in Pankow auf dem Gelände der Ausflugsgaststätte Sello.
Den ganzen Monat November hindurch traten die Skladanowskys im Wintergarten mit ihrem Projektor »Bioscop« auf und gingen anschließend auf Tournee durchs Deutsche Reich, aber auch nach Skandinavien, wo weitere kurze Filme entstanden. Letztlich blieb aber den Skladanowskys der große Erfolg versagt, weil inzwischen die Pariser Brüder Lumière einen Projektor entwickelt hatten, der weniger störanfällig war und sich durchsetzte. Sie nannten ihn »Cinématographe«.
In Berlin gab es vor 30 Jahren einen Festakt zum Jubiläum. Organisiert wurde er von einem Verein, den Wim Wenders gründete, weil sein Kollege Michel Piccoli einen in Paris gegründet hatte, der den Lumières gewidmet war. Wenn auch der Film nicht in Berlin erfunden wurde, so doch das Lichtspielhaus. Definiert man Kino – der Begriff als solcher ist freilich eine Verkürzung des »Kinomatographen« der Brüder Lumière – als einen öffentlichen Veranstaltungsort, an dem eine zufällig zusammengekommene Anzahl von Menschen gegen Entgelt einer Filmvorführung beiwohnt, dann war dies im Varieté »Wintergarten« im November 1895 der Fall. Der Verein »Die ersten 100 Jahre Kino in Berlin« fand seinen Sitz nicht zufällig in Pankow, hatten doch die Skladanowskys hier ihre Filmaufnahmen begonnen, und auf dem Gelände des Gasthauses Sello stand schon seit 70 Jahren das Kino Tivoli. Hier und anderswo in der Stadt wurden historische Filmreihen mit prominenten Gästen gezeigt, Ausstellungen erinnerten an die deutsche Film- und Kinogeschichte. Der Künstler Manfred Butzmann entwarf ein Mosaik, von dem ein Teil noch immer vor dem Grundstück liegt, auch wenn das Kino längst Geschichte ist. Der andere Teil liegt an der »Ecke Schönhauser« vor dem Haus, in dem der Fotograf Fenz zum Filmpionier wurde. Max und Emil Skladanowsky allerdings zerstritten sich schon vor der Jahrhundertwende und starben während des Zweiten Weltkriegs unversöhnt.
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