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Aus: Ausgabe vom 29.10.2025, Seite 14 / Feuilleton

Rotlicht: Voluntarismus

Von Marc Püschel
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Mit viel heißer Luft die Bodenhaftung verlieren: Voluntaristen ignorieren die realen Umstände

Können wir wollen, was wir wollen? Arthur Schopenhauer beschied die Frage, die heute als klassisches Problem der Philosophie gilt, mit einem klaren Nein. In der Vorstellung des bekannten Pessimisten drehte sich zwar alles um den Willen, doch meinte er damit nicht das individuelle Vermögen der Menschen, sondern einen alles umfassenden unpersönlichen Willen, der als eine Art innerer Drang die ganze Welt und alle Menschen beherrscht.

Seit Ende des 19. Jahrhunderts wurden solche Ansätze, in denen der Wille als maßgebliche Kraft oder Anlage des Menschen gesehen wird, als Voluntarismus bezeichnet. Der vom lateinischen »voluntas« (Wunsch, Wille) abgeleitete Begriff wurde damals noch zur objektiven Beschreibung des Menschen und der Welt gebraucht. Vor dem Hintergrund des Aufkommens der Biologie als neuer Leitwissenschaft stand er lange noch in enger Verbindung mit der zur selben Zeit in Mode kommenden Lebensphilosophie.

Der Voluntarismus ist in dieser Hinsicht Teil der Loslösung vom alten christlichen Weltbild. Schon Schopenhauers Philosophie lässt sich interpretieren als säkularisierte Fassung der religiösen Vorstellung, die ganze Welt werde vom göttlichen Willen gelenkt. Im Englischen trug »Voluntaryism« daher auch lange eher die Bedeutung einer individuellen Religiosität, die sich von jeglicher Kirchendogmatik ablöst. Der Begriffsgehalt erweiterte sich allmählich und zielte später auf einen allgemeinen Libertarismus, in dem nur der jeweils eigene Wille zählt.

Es ist diese Bedeutung, nicht mehr die einer expliziten Willensmetaphysik, die heute mit dem Ausdruck verbunden wird. In kritischer Zuschreibung wird als voluntaristisch bezeichnet, wer den Willen höher achtet als die materiellen Umstände und die Vernunft, die nötig ist, um diese Umstände richtig beurteilen zu können. Dabei ist es zweitrangig, ob derjenige seinen eigenen Willen absolut setzt oder allgemein die Kraft des menschlichen Willens überbetont – beides führt ins Sektierertum. Der Voluntarismus ist insofern Teil dessen, was Lenin als »linken Radikalismus« kritisierte.

Ein Paradebeispiel dafür ist die Vorliebe Mao Zedongs, politische und ökonomische Probleme mit Mobilisierungskampagnen wie dem »Großen Sprung nach vorne« lösen zu wollen. Es erscheint merkwürdig, dass gerade der Marxismus für solchen Subjektivismus anfällig ist, schließlich fasst gerade er materielle Interessen und Verhältnisse als bestimmenden Faktor für gesellschaftliche Zustände. Doch ist in dem Kampf für eine bessere Welt die Gefahr des Voluntarismus bereits angelegt. Wer sich für gesellschaftlichen Fortschritt einsetzt, muss immer unmittelbare Interessen transzendieren. Wer politisch aktiv ist, wendet Zeit, Geld und andere Ressourcen auf, mit denen er auch ein angenehmeres Leben führen könnte. Gerechtigkeit und eine bessere Welt müssen gewollt werden. Wer starke, auf die Zukunft gerichtete Ideale hat, ist daher immer anfällig für die Überbetonung von Willensakten. Denn diese sind Bedingung, dass man langfristige Ziele verwirklichen kann. Entsprechend sind die Rechten, denen es in ihrer Verteidigung des Bestehenden an vergleichbaren Idealen mangelt, oft weniger voluntaristisch als Linke.

Wenn man also den Voluntarismus nie ganz aus den Linken wird herausbekommen können, so lassen sich doch die ihm entspringenden irrationalistischen Tendenzen bekämpfen. Dazu müsste man sich aber bewusst machen, dass sie nicht nur in großen welthistorischen Ereignissen wie der Kulturrevolution auftreten. In jeder noch so kleinen linken Organisation kommt Voluntarismus vor. In der Regel erscheint er als übertriebener Anspruch an die Mitglieder, etwa wenn Resignation oder Burnout im Angesicht erfolgloser Kampagnen mit immer neuen Kampagnen übertüncht werden sollen. Die Konsequenz daraus wäre nicht, auf seine Ideale zu verzichten, sondern sein Handeln an das in den jeweiligen Umständen Realisierbare anzupassen – selbst wenn es enttäuschend wenig sein mag. Wie Aristoteles schon wusste: Das richtige Maß zu treffen, darin liegt die Kunst.

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