Das Superman-Syndrom
Von Frank Schäfer
Die Gruppe Motörhead wurde 1975 in London von Lemmy Kilmister gegründet. Frank Schäfer geht in der Serie »50 Jahre Motörhead – die schlechteste Band der Welt« dem sehr lauten Rock-’n’-Roll-Phänomen auf den Grund.
Das Debütalbum »Motörhead« landet 1977 gleich auf Anhieb in den Charts, der Underground hat die Band jetzt also auf dem Einkaufszettel und beschert ihr einen ansehnlichen Platz 43.
Das liegt auch an den Kritiken. Es gibt immer noch genügend Verrisse, das wird sich erst spät ändern, und einige Rezensenten ziehen weiterhin alle hochnotironischen Register der Krachmetaphorik. Doch wenn sie Lemmy als den »Lee Marvin des Megadeath-Rock« und das Album als musikalische »Antwort auf die Neutronenbombe« oder »Heavy-Metal-Blitzkrieg« titulieren und dem Käufer empfehlen, nach dem Abspielen die Wände der Wohnung nach Rissen abzusuchen, dann bringt das bereits eine gewisse Hochachtung zum Ausdruck. Der popmusikalische Paradigmenwechsel ist mit etwas Verspätung in der Journaille angekommen. Man kann der Band plötzlich einiges abgewinnen.
»Sie wissen, dass sie wie Tiere sind, und sie wollen auch gar nicht anders rüberkommen«, heißt es im damals bereits ehrwürdigen Stereo Review. »Wo im Heavy Metal so viele hässliche Frösche herumspringen, die sich einbilden, sie seien Gottes Geschenk an die Frauen, kommen einem diese Quasimodos sogar irgendwie charmant vor.« Diese wohlwollend-maliziöse Charakterisierung wird in den folgenden Jahren und Jahrzehnten immer wieder gern zitiert. Im New Musical Express steht eine sehr abgewogene, durchaus kritische, aber diese Musik endlich einmal ganz ernst nehmende Kritik von Monty Smith, der Song für Song durchgeht und vor allem Fast Eddie Clarkes »in den Lautsprechern Amok laufende« Soli zu würdigen weiß.
Der wohl aufschlussreichste Artikel erscheint im Zigzag-Magazin. Herausgeber Kris Needs schreibt sich zunächst fast um Kopf und Kragen, weil er die »ungezügelte Energie« von Motörhead in eine äquivalente Sprache zu transformieren versucht. »Motörhead verpassen dir die tödlichste Kombination seit Erfindung des Dynamits, genau zwischen die Augen. Sie sorgen dafür, dass du die Wände hochklettern und mit deinem Kopf Löcher in die Zimmerdecke schlagen willst. Motörhead geben dir das Gefühl, alles tun zu können. Das Superman-Syndrom, das der beste High-Energy-Rock-’n’-Roll hervorruft, indem er bloße Noten und Akkorde transzendiert in eine wütende Wand aus explodierendem, verheerendem Lärm.«
Needs erkennt darüber hinaus aber auch früh ein Rezeptionsproblem, das den Erfolg der Band anfangs behindert. Sie setze sich nämlich genau zwischen die Stühle. Es sei nicht wirklich »cool«, Motörhead zu mögen, konstatiert er beinahe schon bedauernd. »Sie sind keine Punk Rocker (nach der Definition der Roxy-Clubgänger). Sie haben langes Haar. Manchmal tragen sie Schlaghosen. Wenn es eine Definition von Heavy Metal Rock gibt, dann spielen ihn Motörhead – wie er gespielt werden sollte (auf einem völlig durchgeknallten, headbangenden Level). Das ist nicht angesagt. Aber noch wichtiger ist, dass die Musikzeitschriften euch nicht erzählt haben, dass ihr sie mögen dürft. Vergesst das alles. Wenn es euch um Energie geht – und darum sollte es doch wohl vor allem gehen, oder? –, dann los und schaut euch Motörhead an.«
Needs bemerkt sehr früh die Gelenksfunktion der Band. Sie laufen immer noch so ähnlich rum wie die Heavy-Bands aus der musikalischen Steinzeit, den späten Sechzigern und frühen Siebzigern, also wie Steppenwolf, Iron Butterfly, Mountain, Black Sabbath, Led Zeppelin, Deep Purple, Uriah Heep etc., sie spielen auch noch eine auf den Kern reduzierte oder sogar aufs Typische abstrahierte Version deren Musik, erreichen dabei allerdings die Impulsdichte und das energetische Niveau der jungen Wilden.
Was ihnen anfangs vielleicht eher zum Schaden gereicht, wird schließlich, nachdem sie sich erst einmal auf dem Markt durchgesetzt haben, zu einem immensen Vorteil. Indem sie so etwas wie eine hypertrophe Essenz des Rock ’n’ Roll liefern, sind sie fast überall anschlussfähig. Und so hat es kaum noch einen gewundert, als sie viele Jahre später, nämlich 2007, sogar auf dem berühmten Montreux Jazz Festival spielen durften.
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