Der Sand von Gaza-Ost
Von Gerd Schumann
Zwischen dem Sand eines Sprengtrichters im Gazastreifen und dem Wüstensand bei den Hörnern von Hattin liegen, geographisch betrachtet, keine 200 Kilometer. Getrennt sind die beiden Orte des Krieges jedoch durch Jahrhunderte und durch eine Entwicklung der Kriegstechnologie, die unaufhaltsam scheint. Die Schauplätze berichten davon.
Die Restmaterie der Häuser von Gaza-Ost, verteilt auf sechzehn Quadratkilometer, ist »zu einem feinen Sand zerrissen«, der bei Regen zu Schleim wird. Anders als der Sand der Wüsten dieses Planeten, des Geländes von Hattin, wo Sultan Saladin 1187 die Kreuzritter schlug, und auch von Karthago noch einmal Tausende Kilometer und Jahre weit entfernt, »ist die synthetische, extrem zerkleinerte Substanz, welche die Drohnen- und Raketenangriffe hinterlassen, ›ohne Leben‹«.
»Sand und Zeit« nennt der Autor, Filmemacher (»Abschied von gestern«, »Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos«) und Produzent (DCTP) Alexander Kluge seinen »Bilderatlas«. Kluge versteht es, Bilder zu lesen wie Texte und mit einer Symbiose aus beiden eine dritte Kategorie zu schaffen, ein textbasiertes, visualisiertes Denken, in dem sich die Teile zu einem neuen Film »überblenden«. Dabei geht es bei seiner Zusammenstellung aus Gesprochenem und Abgebildetem zuvorderst um Phantasie.
Der Autor möchte in dieser »zerrissenen Zeit«, die zunehmend ein allgemeines Gefühl der Ohnmacht im Angesicht der eskalierenden Kriegsrhetorik auf allen Seiten verbreitet, Überlegungen anstoßen, den Teufelskreis aus materieller und ideeller Kriegsproduktion zu durchbrechen. »Die einzige Verlässlichkeit in zerrissener Zeit beruht auf der Beobachtung, dass auch die kriegerische Macht stolpert«, lautet seine These, von der aus er einen Streifzug über historische und aktuelle Schlachtfelder unternimmt und sie in Beziehung zueinander setzt.
Wie war das eigentlich in den drei Punischen Kriegen (264 bis 146 v. u. Z.) zwischen Rom und Karthago, die »wie aus dem Nichts« (Kluge) begannen und mit dem Untergang Karthagos endeten? Wie konnte es zu ihnen kommen, obwohl die beiden Großmächte keine definierten »Gegensätze« hatten, »weil sie keine ähnlichen Interessen besaßen«, fragt Kluge. Wäre der Krieg zu verhindern gewesen? Oder dessen Eskalation?
Vor dem Dritten Punischen Krieg schließlich schloss der »Hetzer« Cato der Ältere, wie Kluge den römischen Politiker nennt, jede seiner Reden mit den Worten: »Ceterum censeo Carthaginem esse delendam« (lateinisch für: »Im übrigen bin ich der Meinung, dass Karthago zerstört werden muss«), die Verhandlungslösungen ausschlossen. Und die letztlich siegreiche römische Elite wollte die Demütigung.
Es ist immer einfacher zuzustimmen, als nein zu sagen. Die Kriegspropaganda erreichte schon früh ein Niveau, das sich nicht hinter dem heutzutage medial Vorgetragenen verstecken muss. Kluge meinte einmal, dass es so einfach gewesen wäre, Hitler zu stoppen. 20.000 Lehrerinnen und Lehrer in der Erwachsenenbildung hätten »dem Mann, der nur vier Prozent der Stimmen in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen hatte, das Handwerk legen können. Dann hätten wir 1945 nicht im Keller sitzen müssen« (Der Standard, 11.3.2024). Danach sammelten, putzten und stapelten Trümmerfrauen Backsteine. Diese waren noch brauchbar im Gegensatz zum zermahlenen Sand von Gaza.
Die Kriegselefanten, die der Karthager Hannibal über die Alpen führte, gleichen den monströsen Panzern, die seit hundert Jahren das Bild vom Krieg prägen. Eine gigantische, in Dutzenden Variationen sich darstellende Maschine mit Schutzschilden aus Eisen und Stahl, mit Rüsseln oder Rohren, wütet. Hannibals »Wunder der Kriegstüchtigkeit« sei heute noch, so Kluge, »Lehrstoff an der US-Militärakademie West Point«.
Für den Autor ist klar, dass Kriege »etwas Produziertes« sind. »Gegenpol« seien allerdings »nicht Wünsche und guter Wille wie im Pazifismus«, sondern vielmehr eine »Antikriegsproduktion«. Wohl wissend, dass diese ein weites, schwer zu bestellendes Feld darstellt, nennt er vier Faktoren einer etwaigen »Gegenproduktion« zu den gängigen Erklärungsmustern, die Kriege begleiten: »(1) Gegenöffentlichkeit, (2) Gegenerzählung, (3) Gegenpraxis, (4) Antikriegsproduktion«.
Utopie? Die Verblendeten behaupten das, andere sprechen von Schwarzweißdenken und ritualisieren ihre Ansichten zu Gaza und der Ukraine. Wer sich nicht darauf einlassen will, Kluges Texte und Bilder in Beziehung zu setzen zu seinem Anliegen, über Auswege nachzudenken, bleibt der Zugang verschlossen zu einer Vorstellungswelt, in der aktuelle Kriege beendet und zukünftige verhindert werden. Schon allein deshalb lohnt es sich, sich mit Kluges »erweitertem Bauhaus« als Produktion »von Geist und Praxis« zu beschäftigen.
Alexander Kluge: Sand und Zeit – Bilderatlas. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2025, 168 Seiten, mit vielen farbigen Abbildungen, 25 Euro
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