Gegründet 1947 Sa. / So., 25. / 26. Oktober 2025, Nr. 248
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Aus: Ausgabe vom 25.10.2025, Seite 1 (Beilage) / Wochenendbeilage
Dokumentiert

»Es waren notwendige Versuche«

Der bewaffnete Kampf der Rote Armee Fraktion im Rückblick. Ein Gespräch mit der Ex-RAF-Kämpferin Brigitte Asdonk
Interview: Antigra (b) und H2SO4
Solidarität mit den Forderungen der hungerstreikenden politischen Gefangenen im Frühjahr 1989 in Hamburg
Bis zuletzt politisch aktiv: Brigitte Asdonk im Jahr 1998

Vor 27 Jahren, im Dezember 1998, erschien ein zehnseitiges Interview mit Brigitte Asdonk im Horrorblatt, der Schülerzeitung einer Gesamtschule im Nordosten Berlins. Unser Ziel war es, eine Person aus dem bewaffneten Kampf zu interviewen. Über einen Bekannten hatten wir Brigitte Asdonks Telefonnummer erhalten. Während der Fahrt nach Kreuzberg notierten wir unsere Fragen für das Interview, doch an diesem Tag holten wir unser Diktiergerät nicht heraus.

In den folgenden Monaten trafen wir uns immer wieder mit Brigitte. Wir hatten viele Fragen zu den 68ern, zum bewaffneten Kampf in der BRD und zum revolutionären Aufbruch. Brigitte war sehr offen und nahm sich die Zeit, all unsere Fragen gründlich zu beantworten. Sie wollte nicht nur »ihre« Geschichte erzählen; es war ihr wichtig zu vermitteln, dass es sich um einen kollektiven Prozess handelte. Zu unseren Treffen lud sie immer wieder auch andere Personen ein, die in der RAF und der Bewegung 2. Juni organisiert waren. Schließlich entschieden wir uns eines Tages, das Diktiergerät zu benutzen, und es entstand das folgende Interview.

Brigitte ist am 15. September 2025 gestorben. Sie wird uns fehlen.

Wie und wo hast du deine Kindheit verbracht?

Ich bin in der westdeutschen Provinz, auf dem Lande aufgewachsen in den 50er, 60er Jahren.

Hattest du als Heranwachsende politische Konflikte mit deinen Eltern?

Ich fand es dort unendlich öde und begrenzt. Meine Eltern, die zwar selbst keine Faschisten waren, und meine ganze Umgebung waren katholisch und sehr konservativ. Es gab zu dieser Zeit so wenig Erklärungen, was eigentlich los war, was gewesen ist – die Geschichte des Faschismus. Adenauer ist Bundeskanzler gewesen, und es war alles so reaktionär, selbst Bertolt Brecht wurde verboten. Es gab einfach keine politische Diskussion, keine andere Orientierung, alles war festgelegt. Ich und andere um mich herum haben nach Alternativen gesucht, die wir aber in diesem Bereich nicht fanden. Ich hatte kein größeres Bedürfnis, als daraus auszubrechen.

Was hat dich bewogen, 1967 nach Westberlin zu gehen? Was hattest du für Hoffnungen?

Westberlin 1967 war aus der Provinz gesehen der Ort, wo es offensichtlich etwas Neues gab: eine antiautoritäre Bewegung, die eine Vorstellung von einer befreiten Gesellschaft hatte und auch dafür kämpfen wollte. Ich hatte ’67 gerade mein Abitur gemacht und stellte mir vor, wenn ich Soziologie studiere, habe ich die Möglichkeit, mehr über die Ursachen dieses gesellschaftlichen Zusammenlebens zu erfahren. Das wollte ich in Berlin, wo Leute schon zusammen waren und etwas Neues ausprobierten.

Wie und warum hast du angefangen, dich politisch zu engagieren?

Während meiner Schulzeit wurde der kongolesische Befreiungskämpfer Lumumba vom Kolonialland Belgien ermordet. Ein paar Jahre später, Mitte der 60er, hörten wir vom Krieg der USA in Vietnam. Doch in dieser Zeit war es ganz schwierig, die Hintergründe und Zusammenhänge herauszufinden. Klar war nur, dass das, was man uns dazu erzählte, was im Radio und im Fernsehen darüber berichtet wurde, hinten und vorne nicht stimmte. Ich fühlte mich aufgefordert, etwas zu tun. Die Frage war nur: wie?

Für fast alle Leute in meiner Umgebung schien vollkommen festzustehen, was erlaubt ist und was nicht. Das ging bis hinein in die persönlichsten Dinge. An Veränderung war nicht zu denken. »Ihr seid ja verrückt!« hieß es. Ich selbst – und insgesamt viele andere, meist junge Leute in den verschiedensten Ecken des Landes – hatten das dringende Bedürfnis, dies alles aufzubrechen und etwas Neues, etwas Eigenes zu versuchen.

Wie hast du in Berlin politisch gearbeitet?

Als ich ’67 nach Berlin ging, kam ich mitten in die Aktivitäten und Mobilisierungen der außerparlamentarischen Opposition (APO). Die APO war zunächst an den Unis sehr aktiv. Es taten sich viele Studentinnen und Studenten zusammen, um ihr Studium selbst zu organisieren – gegen die auch in der Uni sehr hierarchische und autoritäre Ordnung. Ich lernte zu dieser Zeit viele Studentinnen und Studenten aus Spanien und Portugal kennen. In beiden Ländern gab es noch eine Diktatur. Nach dem Militärputsch in Griechenland ’67 kamen viele von dort nach Berlin. Studentinnen aus Afrika, Asien, Lateinamerika, auch aus den USA, berichteten uns viel über die Situation in ihren Ländern. Wir waren wirklich gut informiert. Und es gab ein starkes Gefühl der Verbundenheit unter uns.

Zunächst habe ich, aus dem Verständnis heraus, dass alle Menschen die gleichen Chancen haben müssen, innerhalb der Gewerkschaft Schulaufgabenzirkel gemacht mit Kindern, die zu Hause keine Unterstützung hatten. Mit anderen zusammen habe ich dann überlegt, wie wir anders wohnen könnten. Ich habe dann auch in einer großen Wohngemeinschaft gewohnt.

In den vielen Aktivitäten an den Unis verstanden wir, dass man nicht nur in einem spezifischen Fach studieren kann, sondern dass es ein fächerübergreifendes Lernen sein muss, dass es in Verbindung stehen muss mit der gesellschaftlichen Realität und dass du Partei ergreifen musst für diejenigen, deren Interessen mit Füßen getreten werden. Aber dann agierten wir eben auch aus der Uni heraus und auf der Straße gegen den Völkermord in Vietnam, gegen den Springer-Konzern und seine rassistische Hetze in fast allen Zeitungen der Stadt und gegen die Verabschiedung der Notstandsgesetze 1968.

Einige, die schon länger politisch aktiv waren, machten den Vorschlag, Stadtteilgruppen aufzubauen. Es ging uns um mehr Kontakt zu den Leuten, die im Kiez wohnten. Es war die Zeit, wo wir in Betriebe gegangen sind, um Betriebs- und Lehrlingsgruppen zu gründen.

Es war ein Prozess, das werden euch alle erzählen, die es miterlebt haben, in dem wir das Gefühl hatten, die Uhren gehen anders, in dem auf einmal alles beschleunigt war. In einem unheimlich kurzen Zeitraum setzten wir uns mit allen möglichen sozialistischen Ideen auseinander. Wir bekamen immer mehr das Gefühl, dass wir mitten in einem Prozess sind, der nicht nur in Berlin abläuft, sondern auch in der ganzen BRD und darüber hinaus, nämlich international, und dass es tatsächlich die Möglichkeit gibt, die gesellschaftlichen Verhältnisse grundlegend zu verändern, und das in einem internationalen Zusammenhang. Das aber heißt, dort anzufangen, wo man lebt.

Wie bist du in die RAF gekommen?

Die außerparlamentarische Opposition in Berlin wurde in ihren praktischen Auseinandersetzungen zunächst an der Uni selbst und dann aber auch auf der Straße mit einem massiven und harten Polizeiapparat konfrontiert. ’67 wurde während einer Demonstration gegen den Staatsbesuch des Schahs aus dem Iran der Student Benno Ohnesorg von einem Polizisten erschossen. Nicht ganz ein Jahr später war das Attentat auf Rudi Dutschke. Trauer und Entsetzen unter uns. Aber es hat auch eine Radikalisierung innerhalb der APO ausgelöst. Die Bewegung verbreiterte sich enorm. ’68 haben Diskussionen unter uns angefangen, dass wir uns gegen so einen brutalen Apparat auch militant verteidigen müssen, wenn wir überhaupt eine Chance haben wollen, hier irgendwie weiterzukommen. »Gewalt gegen Sachen – ja, Gewalt gegen Personen – nein«. Das war die Position der APO ’68.

Damals auf dem internationalen Vietnamkongress in Berlin wurde zum ersten Mal öffentlich diskutiert, unter mehreren 1.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern, dass auch wir in den hochentwickelten industrialisierten Metropolen so etwas wie eine Guerilla aufbauen müssen. So ähnlich wie es in Vietnam, Brasilien, Uruguay und in den USA versucht wurde. Die Black Panther organisierten sich in den Ghettos in den großen amerikanischen Städten und verteidigten sich militant und bewaffnet gegen den allgegenwärtigen Rassismus, besonders den der Polizei.

In Westberlin und Westdeutschland waren große Kasernen und Stützpunkte der US-Armee, von denen aus GIs direkt nach Vietnam geflogen wurden. Vom europäischen Hauptquartier der US-Armee in Heidelberg wurden Flächenbombardements gegen die Zivilbevölkerung Vietnams programmiert. Wir wollten dem nicht zusehen – nicht das Maul halten. Wir überlegten, wie wir diesen Krieg, die Verbrechen gegen die Bevölkerung Vietnams stoppen können. Es wurde zum ersten Mal von der APO öffentlich vorgeschlagen, Sabotageaktionen gegen Kriegsmaterial und gegen US-Stützpunkte durchzuführen. In der folgenden Zeit haben wir in kleineren Gruppen, dennoch mit mehreren hundert, weiter diskutiert, was möglich und machbar ist.

Ende ’69, Anfang ’70 haben sich diejenigen zusammengetan, die die RAF gegründet haben. Die meisten kamen aus den Basisgruppen innerhalb der APO. Wir haben dann diskutiert, was es heißt, eine illegale Struktur aufzubauen und diese ganz besondere Form von Widerstand zu organisieren. Ich war zu dieser Zeit in einer Betriebsgruppe in Tegel aktiv. Ulrike Meinhof lernte ich in der Stadtteilgruppe im Märkischen Viertel kennen. Dort wohnten die meisten Arbeiter aus dem Tegeler Betrieb mit ihren Familien. Was total fehlte, war ein Ort, wo sich Jugendliche treffen konnten. Am 1. Mai ’70 haben wir ein leerstehendes Gebäude im Märkischen Viertel besetzt mit der Forderung, dass hier ein Jugendzentrum entstehen soll. Bei dem darauf folgenden Polizeieinsatz wurde Ulrike das erste Mal festgenommen.

Was waren deine beziehungsweise eure Ziele bei diesem Kampf?

Ende der 60er Jahre gab es eine historische Situation, weltweit. Es schien möglich, dass es durch die Befreiungskämpfe in den verschiedensten Ländern der Welt, aber auch durch die Kämpfe in Westeuropa zu einer grundlegenden gesellschaftlichen Veränderung kommt. Die imperialistischen Staaten versuchten in Vietnam, aber auch in lateinamerikanischen Ländern mit Putschen, Massakern und Bombardierungen den Befreiungsprozess zu zerschlagen. Wir wollten dem etwas entgegensetzen. An verschiedensten Punkten der Welt entstand ein Bewusstsein, dass, wenn wir diese Situation nicht nutzen und versuchen, uns zu organisieren, um Widerstand zu leisten, wir die Chance verpassen, etwas zu ändern.

Unser Ziel war es, eine starke oppositionelle Bewegung zu entwickeln, die etwas anderes als eine kapitalistische Herrschaft mit all dieser Ungleichheit und Unterdrückung und Zerstörung von Mensch und Natur vorstellbar machte.

Wie bist du – beziehungsweise bist du überhaupt – mit dem Gedanken umgegangen, dass du immer bereit sein musst, jemanden zu töten?

Wir waren von der Notwendigkeit überzeugt, eine illegale Struktur aufzubauen, die außerhalb der Kontrolle des Polizeiapparates liegt. Wir hatten ’69/’70 den Eindruck, mit all unseren Aktivitäten, mit Basisgruppen und der Organisierung des eigenständigen, selbstbestimmten Netzes an allen Ecken und Enden vom Berliner Verfassungsschutz und der politischen Polizei und von verschiedensten Geheimdiensten, die in Berlin sind, total observiert zu werden. Es ging also um eine Struktur, die nicht unter ihrer Kontrolle stand. Hinzu kam, dass viele, die aus den Diktaturen – in Portugal beispielsweise – hierher flüchteten, illegal waren. Um nicht von der Polizei verhaftet und in ihre Länder zurückgeschickt zu werden, brauchten sie Papiere und Verstecke.

Wir haben die GIs aufgefordert, die US-Armee zu desertieren, also nicht nach Vietnam zu fliegen. Wenn sie das gemacht haben – und das haben eine ganze Reihe – dann brauchten sie auch neue Papiere, eine Unterkunft oder auch die Möglichkeit, in ein anderes Land zu kommen. Mit Hilfe der APO sind viele GIs, die sich verweigert haben, nach Schweden gebracht worden, wo sie die Möglichkeit hatten, Asyl zu finden. Das war in Berlin nicht möglich. Das war erst einmal die Idee einer illegalen Struktur. Aus einer Situation heraus, um überhaupt Widerstand leisten zu können, ohne unter totaler Kontrolle zu stehen.

Dazu kam Ende der 60er Jahre hier in Berlin, aber auch in zig anderen Ländern die Erfordernis, sich gegen einen voll aufgerüsteten Polizeiapparat zu bewaffnen. Sie hatten schließlich ’67 zuerst geschossen. Das nicht, weil wir auf Waffen scharf waren. Linke haben ein ganz besonderes Verhältnis zu Gewalt. Wir lehnen Gewalt ab, aber sagen, dass es legitim ist, sich zu bewaffnen, um überhaupt gegen die herrschende Gewalt anzukommen. Fast alle von uns hatten überhaupt keine Ahnung vom bewaffneten Kampf.

Diejenigen, die bewaffnet gegen den Faschismus gekämpft hatten und uns ihre Erfahrung hätten weitergeben können, waren tot, ermordet oder für uns in Berlin nicht erreichbar. Bewaffnung war mit dem Gedanken verbunden, sich so gegen einen hochaufgerüsteten Polizei- und Repressionsapparat zu verteidigen. Den Fall, dass wir dadurch selbst in die Situation kommen könnten zu töten, haben wir bis zu meiner Verhaftung im Oktober ’70 – das heißt in der Aufbauphase der Guerilla – nicht diskutiert. Bewaffnung war ein Mittel zur Verteidigung und nicht, um andere zu töten.

Wovor hattest du am meisten Angst?

Ich hatte gar keine Angst. Ich glaube, wir hatten alle keine Angst. Wir waren von der Notwendigkeit, uns für diese Arbeit zu entscheiden, überzeugt. Wir hatten das Gefühl, dass es jetzt richtig war, und stellten uns die Frage: »Wenn wir es nicht tun, wer soll es dann tun?« Es gab keinen Platz für Angst, aber wir waren auch sehr naiv und unerfahren.

Beschreibe dein Leben in der Illegalität!

Die Vorstellung war, eine Stadtguerilla zu haben, die, in der vorhandenen Basisbewegung verankert, ein Teil von ihr ist. In Berlin gab es ’69/ ’70 eine sehr starke und breite Basisbewegung, die nicht nur aus mehreren hundert direkten Aktivistinnen und Aktivisten bestand, sondern aus einem breiten Umfeld von Frauen und Männern, die mit der Bewegung und ihren sozialrevolutionären Ideen sehr stark sympathisierten: Anders leben, anders erziehen, anders lernen, anders arbeiten, verbunden in internationaler Solidarität mit den verschiedenen, um ihre Befreiung kämpfenden Menschen in anderen Ländern. Die Guerilla hat sich als Teil dieser Basisbewegung verstanden. Ich selbst hatte Kontakt zu den Illegalen und war auch Teil der Auseinandersetzung innerhalb der Illegalen. Bis zu unserer Verhaftung im Oktober ’70 bauten wir eine illegale Struktur auf. Wohnungen, Autos, Waffen und Verbindungen. Wir machten eine militärische Ausbildung bei der PLO in Jordanien. Die ersten praktischen Aktionen wurden diskutiert und vorbereitet. Die Befreiung von Andreas (Baader) aus dem Knast im Mai 1970 war eine der ersten Aktionen der RAF. Im Spätsommer ’70 überfielen mehrere Gruppen in Berlin drei Banken, um sich damit die finanziellen Mittel zu verschaffen, die zum Aufbau einer solchen Organisation notwendig waren.

Hattest du Angst davor, in den Knast zu kommen?

Ich habe mit einigen anderen über Knast diskutiert und wir haben uns vorgestellt, wie lange wir es aushalten könnten. Unsere Vorstellung 1970, ganz im Gegensatz zu den Entwicklungen in den folgenden Jahren, war, dass wir ein halbes Jahr schaffen würden. Es gab einfach keine Erfahrung.

Gab es Hausdurchsuchungen oder sonstige Konsequenzen für deine Eltern oder deine Freunde?

Der Staatsschutz ist zu meinen Eltern gefahren und setzte sie, um etwas herauszubekommen, unter Druck. So wie es, glaube ich, bei allen politischen Gefangenen geschah.

Wie, wann und warum kam es zu Deiner Verhaftung?

Im Oktober 1970 gab es in einer illegalen Wohnung in Berlin ein Treffen von allen, die zu diesem Zeitpunkt zur RAF gehörten. Nacheinander wurden dann fünf von uns verhaftet. Ob es Verrat oder Fahndungserfolg war, ist heute noch immer nicht zu sagen.

Erzähle bitte von deiner Gerichtsverhandlung. Was waren die Anklagepunkte und welche Strafe hast du bekommen?

Zunächst war ich bis ’72 in Untersuchungshaft. Darauf gab es dann einen Prozess gegen mich und fünf andere wegen »Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung«. Das ist der Paragraph 129, der seit Jahrzehnten in Deutschland gegen Oppositionelle eingesetzt wurde. Die Beteiligung an Banküberfällen und der Besitz von gefälschten Papieren und Waffen waren weitere Anklagepunkte.

Das Gericht ist davon ausgegangen, dass wir zur RAF gehörten, also auch an den Aktionen teilgenommen haben. In einem Indizienprozess wurden wir zu zehn Jahren verurteilt. Von seiten der Anwälte wurde Revision gegen dieses Urteil eingelegt, die erst nach vier Jahren verworfen wurde, so dass ’76 die Strafhaft anfing.

Was hatten die Kläger für Indizien?

Karl-Heinz Ruhland, der ’71 verhaftet wurde, hatte nach kurzer Zeit Knast umfangreiche Aussagen gemacht, zum Beispiel über seine Beteiligung an Banküberfällen im Jahre 1970. Dabei hat er einige, die mit ihm dabei waren, namentlich genannt. Das Gericht hat dann eine Art Kollektivthese angewandt: Alle, die nach Ansicht des Gerichts zur Gruppe gehören, müssen an den Aktionen der Gruppe beteiligt gewesen sein, auch wenn sie von ihrem Kronzeugen nicht namentlich genannt wurden.

Auf welchem Gesetz basierte das?

In der zweiten Hälfte der 70er Jahre ist das Kronzeugengesetz eingeführt worden. Aber angewandt wurde es schon Jahre zuvor – ohne gesetzliche Regelung. Das gleiche gilt für das Kontaktsperregesetz.

Warum konnte dein Anwalt nichts dagegen tun?

Es war nicht möglich. Ihr müsst euch mal die Situation vorstellen, in der dieser Prozess stattfand. Im Frühjahr ’72 hatten die USA damit begonnen, Krankenhäuser, Deiche und dichtbesiedelte Gebiete in Nordvietnam zu bombardieren. Aus Protest dagegen machte die RAF zwei Sprengstoffanschläge gegen die beiden US-Hauptquartiere in Frankfurt und Heidelberg. Kurz darauf wurden fast alle aus der Gruppe festgenommen: Andreas Baader, Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin, Jan-Carl Raspe, Irmgard Möller, Brigitte Mohnhaupt und andere. Zu diesem Zeitpunkt gab es auf seiten der gesamten Medien eine Pogromstimmung gegen die RAF, in der es überhaupt keine Chance gab, auch mit den besten Anwälten nicht, dieser Vorverurteilung etwas entgegenzusetzen. Wer keine Aussage machte, wer sich nicht distanzierte, war schuldig, das stand fest.

Warum, glaubst du, kam es zu einem solchen Gerichtsurteil?

Es ging dem Staat und der Bundesanwaltschaft direkt darum, mit massiven Urteilen gegen uns vorzugehen, um uns zu kriminalisieren und zu zerstören und jeden Sympathisanten abzuschrecken.

Was hast du gefühlt, als dir klar wurde, dass du für eine enorm lange Zeit in den Knast musst?

Mir war von Anfang an mit am wichtigsten, dass meine und unsere Inhaftierungen nicht dazu führten, dass andere draußen den Mut verlieren, sich zu wehren. Mir ging es sehr darum, in irgendeiner Form zu zeigen, dass es auch unter Bedingungen des Knastes möglich ist zu kämpfen, durchzuhalten und aktiv zu bleiben, vor allem auch im Kopf. Körperlich versuchte ich, Wege zu finden, mich gegen den Knast zur Wehr zu setzen. Am allerwichtigsten aber war immer die Frage, wie es draußen weitergeht und ob es weitergeht mit der Entwicklung von Widerstand, mit der Entwicklung einer sozialistischen Bewegung.

Du hast am Anfang deiner Gefangenschaft in einer unterkühlten Zelle in Isolationshaft gesessen. Hatte das körperliche Folgen für dich?

Im Laufe der 70er Jahre wurde immer deutlicher, dass der Staat entschlossen war, gegen politische Gefangene mit ganz extremen Haftbedingungen vorzugehen. Ich bin Anfang ’71 nach Essen ausgeflogen worden. Dort fand ich mich wieder in einer unterkühlten Kellerzelle, von den anderen Gefangenen völlig isoliert und mit dauerndem Neonlicht. Ich hatte erst einmal sehr viel damit zu tun zu begreifen, was das für eine Situation ist, wie massiv sie mich auch körperlich angreift und wie ich mich dagegen wehren kann. Meine Besuche und Anwälte machten mich darauf aufmerksam, dass ich immer blau angelaufene Hände hatte und mein Kreislauf durcheinanderlief.

Ich hatte immer wieder versucht, zu anderen Gefangenen Kontakt aufzunehmen, mich mit ihnen zu verständigen. Daraufhin gab es immer wieder sogenannte Hausstrafen, vierzig Tage Bunker. Die Bundesstaatsanwaltschaft erklärte, solange ich keine Aussagen mache, bleibe ich total isoliert. Es war also ganz eindeutig, was sie wollten.

Wie kam es dazu, dass du zwölf statt zehn Jahre gesessen hast?

Im Knast kamen weitere Anklagen hinzu: Beleidigung, Widerstand gegen die Staatsgewalt und versuchte Gefangenenmeuterei.

Wir sind im Frauenknast in Berlin mit anderen gefangenen Frauen auf dem Hof geblieben, statt in die Zellen zurückzugehen. Wir forderten mehr Möglichkeiten, zusammen zu reden, zu lernen, zusammen Sport zu machen. Daraufhin wurde das Rollkommando (Spezialpolizei) gegen uns eingesetzt, weil die »Gefangenen meutern«.

Hast du geplant, aus dem Knast auszubrechen oder gab es von außerhalb Bemühungen in dieser Richtung?

Im nachhinein hörte ich, dass es sowohl in Berlin als auch in Essen von einer Gruppe der RAF Pläne gab, uns zu befreien.

Hast du es versucht?

Ich habe immer wieder geguckt, ob es Möglichkeiten gibt. Ich glaube, keine Gefangene hört auf, sich damit zu beschäftigen.

Wie kam es zu den etlichen Hungerstreiks?

Gegen die Gefangenen aus der RAF und andere politische Gefangene sind bis heute eine Menge Sonderhaftbedingungen durchgeführt worden. Anfang der 70er Jahre wurden extra Gefängnisse im Gefängnis gebaut, Hochsicherheitsgefängnisse, Hochsicherheitstrakte, Hochsicherheitszellen. Dort wurde eine weitestgehende Isolation von uns möglich. Es gab Besuchsverbote, Verbote von Büchern und Zeitungen. Anwälte wurden ausgeschlossen. Gegen all diese Maßnahmen haben in den letzten 30 Jahren die politischen Gefangenen in der BRD mit verschiedensten Mitteln versucht, sich gemeinsam zu wehren, besonders mit Hungerstreiks.

In den ersten Jahren forderten wir aus der Isolation heraus- und mit anderen Gefangenen zusammenzukommen. Als ’74 Holger Meins bei einem Hungerstreik zu Tode kam, waren die meisten von uns der Ansicht, dass wir keine Chance haben, die Zusammenlegung durchzusetzen. Daraufhin wurde die Forderung entwickelt, dass wenigstens wir im Gefängnis zusammenkommen, um diskutieren und politisch arbeiten zu können. Über viele Jahre hinweg wurde für die Zusammenlegung der Gefangenen aus der RAF und aus anderen sozialrevolutionären Widerstandsgruppen gekämpft. ’77 gab es dann eine Zusammenlegung einer Gruppe von Gefangenen, die aber kurz darauf wieder aufgelöst wurde.

Es gab immer wieder große Hungerstreiks, erst ’74, dann ’81 und zuletzt ’89, an denen viele andere Gefangene mit ihren eigenen sozialen Forderungen teilgenommen haben. Die Knastverhältnisse in der BRD sind sehr zerstörerisch. Viele hundert Gefangene sind fast 24 Stunden nur in ihren Zellen und haben keine Möglichkeit, etwas zu machen, zum Beispiel zu lernen.

Du musstest während deiner Haft des öfteren in den Bunker. Was ist das, warum musstest du und welche psychischen und körperlichen Auswirkungen hatte das für dich?

Der Bunker ist in allen Knästen noch mal eine besondere Zelle. Hier gibt es kein Bett, sondern höchstens eine Steinfläche, auf die man sich legen kann, Brot und Wasser, ein Loch im Boden. Der Bunker ist dunkel und wird von Kameras überwacht. Die Bunkerstrafe wird wegen Verstößen gegen die Knastordnung eingesetzt.

Ich habe nach Ideen gesucht, etwas gegen die zerstörerische Situation zu tun. Ich bin auf und ab gegangen. Ich fing an, alles, woran ich mich erinnern konnte, was ich irgendwann einmal in meinem Leben gelernt hatte, zu wiederholen. Ob das jetzt Vokabeln aus dem Französischunterricht waren oder Lieder und Gedichte. Ich arbeitete mit allem, was ich aufgenommen und gelernt hatte, erfand und erzählte Geschichten, malte Bilder im Kopf, reiste in Gedanken dahin, wo ich schon einmal war, um nicht verrückt zu werden.

Wodurch hast du es geschafft, diese zwölf Jahre zu überstehen?

Ich wollte unter allen Bedingungen noch einmal raus aus dem Knast: Leben, Glück, Lachen und Freude, aber auch mit anderen zusammen noch einmal politisch etwas in Gang setzen. Das war ein sehr deutliches Bedürfnis für mich.

Ich hatte die ganzen Jahre gute Freundinnen und Freunde und einen Bruder, die mich besuchten und unterstützten.

Hattest du Selbstmordgedanken im Knast?

Nein.

Warum nicht?

Was mich innerhalb der APO und auch innerhalb der RAF bewegte – die Notwendigkeit des Widerstandes gegen die Verhältnisse in der BRD – begleitete mich auch die ganzen Jahre im Knast. Es ging mir darum, auf jeden Fall den hier herrschenden Verhältnissen etwas entgegenzusetzen. Es gab keinen Grund, dem selbst ein Ende zu setzen, aber viele gute Gründe, das andere weiterzuversuchen. Ich denke, das war und ist der zentrale Motor für alle von uns, nicht aufzugeben, nicht nachzugeben, an der Notwendigkeit und der Hoffnung, dass es gelingt, festzuhalten.

Schildere das prägendste Ereignis während deines Gefängnisaufenthaltes!

Einer der schlimmsten Tage war, als ich zusammen mit anderen im Frauenknast in der Lehrter Straße in Berlin am Morgen des 9. Mai 1976 die Nachricht aus dem Knastradio hörte, dass Ulrike Meinhof angeblich Selbstmord in ihrer Zelle in Stammheim gemacht habe. Das war eine Nachricht, die uns wie ein Hammerschlag traf. Dass es Selbstmord war, glaubten wir in diesem Moment nicht, und ich glaube es bis heute nicht, weil Ulrike einfach auch derart voller Leben war.

Eine der ganz schönen Sachen war, als in Berlin die Lorenz-Entführung gut endete und wir in unseren Zellen den Schlager »So ein Tag, so wunderschön wie heute« hörten. Heinrich Albertz, der 1966/67 Regierender Bürgermeister von Berlin-West war, behauptete als erster, dass die Studenten selbst schuld seien an den Schüssen auf Benno Ohnesorg ’67. Doch in den folgenden Tagen, als immer deutlicher wurde, dass Ohnesorg gezielt erschossen wurde, hat er Selbstkritik geübt und sein Amt niedergelegt. 1975 forderte die »Bewegung 2. Juni« nach der Entführung von Lorenz, dass die Gefangenen, deren Befreiung sie forderten, in Begleitung von Albertz nach Jemen geflogen werden sollten. Dies tat er tatsächlich. Das Signal für die Freilassung von Lorenz war die Veröffentlichung des Codeworts »So ein Tag …«.

Siehst du heute die zwölf Jahre als Verschwendung oder als wichtige Erfahrung in deinem Leben an?

Ich gehöre zu denjenigen, die überlebt haben. Diese Jahre waren ein wichtiger Lernprozess für mich und sie gehören zu meinem Leben.

Was hast du bei deiner Entlassung gefühlt?

Als ich im Mai ’82 entlassen wurde, sind viele Freundinnen und Freunde zum Knast gekommen. Wir haben erst einmal zusammen gefeiert. Ich habe ganz viele wiedergesehen und bin mit ihnen draußen herumgelaufen. Dann bin ich mit ihnen zurück nach Berlin gefahren. Ich war in den ersten paar Tagen völlig begeistert darüber, mich auf der Straße zu bewegen. Ich habe mit Faszination wahrgenommen, wie die Autos an mir vorbeirasten. Es war wunderbar, diese Bewegung mitzuerleben und herumlaufen zu können. Es war tagelang wie ein Trip.

Welche Schwierigkeiten waren mit dem »Draußensein« verbunden?

Nach dem Knast bin ich nach Berlin zurückgegangen, weil ich hier ’67 angefangen habe, innerhalb der APO konkret politisch zu arbeiten und mich zusammen mit den anderen als verankert in der Basisbewegung verstanden hab. Als ich zurückgekommen bin, musste ich erst einmal meine alten Freundinnen und Freunde, Genossinnen und Genossen aus den damaligen Betriebs- und Stadtteilgruppen, aus den Roten Zellen an der Uni und aus den Frauengruppen suchen und fragen, was sie machen und denken. Gleichzeitig habe ich hier eine völlig neue und sehr militante HausbesetzerInnenbewegung vorgefunden und musste feststellen, dass ich fast niemanden kannte – also mir völlig neuen und fremden Menschen gegenüberstand. Ich habe gesehen, dass die meisten »Alten« sich inzwischen in irgend einer Form integriert, ihre Ausbildung beendet hatten, beruflich tätig waren und auch gut verdienten. Zum Beispiel hatten fast alle eine gut eingerichtete Wohnung. Ich hatte Obstkisten als Bücherregal.

Aber es gab auch ganz alltägliche Probleme. Als ich mir beispielsweise einen VW-Bus auslieh, um Sachen zu meiner ersten Wohnung zu transportieren, stand ich auf einer gut befahrenen Straße in Westberlin und rechts und links fuhren die Autos an mir vorbei und ich wusste nicht mehr, wie ich den nächsten Gang reinbekomme, um anzufahren. Ich habe mich verwünscht, warum ich mich überhaupt mit einem Auto auf die Straße bewegt habe. Dann hatte ich den Gang doch irgendwie gefunden und bin zu einer Tankstelle gefahren, aber ich entdeckte den Tankeingang nicht und fand das alles furchtbar peinlich.

Vor allem mochte ich nicht längere Zeit stillsitzen.

Warum bist du nicht wieder in die RAF eingestiegen?

Von ’70 bis ’82 hatte sich vieles ganz entschieden verändert. Mir ging es erst einmal darum, herauszufinden, was draußen abgelaufen ist, als ich im Knast war. Also zu verarbeiten, woran ich gar nicht selbst beteiligt war, sondern immer sehr mühsam aus Gesprächen, aus Notizen, aus Briefen, aus Zeitungen herbeiholen musste.

Ich fand und finde, dass es die Aufgabe von politisch entschlossenen Menschen ist, sich in die vorhandene aktive linke Bewegung zu integrieren, um mit denen, die da sind, gemeinsam etwas auf die Beine zu stellen. Diesen Weg habe ich erst einmal genommen. Dann zeigte es sich im Laufe der Jahre, dass die RAF immer mehr an ihre Grenzen gestoßen ist und es nicht möglich und auch nicht richtig war, so weiterzumachen.

Gehen aus deiner Gefängniszeit Phobien im Alltag hervor?

Ein paar Wochen nach meiner Entlassung besuchte der damalige US-Präsident Ronald Reagan Berlin. Natürlich wollte ich an einer Demo teilnehmen – gegen Reagan. Die Demo der Linken war verboten, so dass alle, die auf den Nollendorfplatz gekommen waren, von der Berliner Polizei massiv attackiert und mit NATO-Stacheldraht eingekesselt wurden. Als ich das wahrgenommen hatte, wollte ich so schnell wie möglich raus. Ich hatte das große Bedürfnis, nicht noch einmal eingekesselt, eingeschlossen zu sein.

Ich habe viele Jahre, immer wenn das möglich war, gerne mit einer geöffneten Haustür gewohnt. Ich wollte mich nicht in geschlossenen Räumen wissen.

Was machst du zur Zeit?

Es gibt immer noch eine radikale Linke in Berlin, die für eine herrschaftsfreie Gesellschaft und gegen die rassistischen und faschistischen Vorstellungen in der Gesellschaft kämpft. Ich bewege mich innerhalb dieser radikalen Linken und beteilige mich an Aktionen, Demonstrationen und Veranstaltungen, sowohl in der gemischten Linken als auch in der Frauen- und Lesbenbewegung.

Wie machen sich die rassistischen und faschistischen Vorstellungen in der Gesellschaft bemerkbar?

Ich lebe beispielsweise mit einer tamilischen Familie zusammen – mit zwei Jugendlichen, die hier zur Schule gehen und zwei Erwachsenen. Sie gehen nicht einen Tag durch Berlin, ohne beschimpft oder bedroht zu werden. Denkt doch mal an die Pogrome in Hoyerswerda, Rostock, Mölln, Solingen oder an Lübeck, wo im Januar ’96 ein Flüchtlingswohnheim in Brand gesteckt wurde. Zehn Flüchtlinge verbrannten. Ausgerechnet ein Bewohner wurde angeklagt und soll jetzt noch mal verklagt werden.

Stimmen deine heutigen politischen Vorstellungen mit denen von vor 30 Jahren noch überein?

Mein Ziel ist immer noch, gemeinsam mit anderen für eine herrschaftsfreie Gesellschaft, für eine Gesellschaft frei von Unterdrückung, Ausbeutung und rassistischer und antisemitischer Hetze und Anschlägen zu kämpfen. Was heute viel schwieriger geworden ist, sind Wege und Handlungsformen zu finden.

Am Morgen des 18. Oktobers ’77 wurden die RAF-Gefangenen Jan Carl Raspe, Gudrun Ensslin und Andreas Baader tot in ihrer Zelle im Hochsicherheitstrakt in Stammheim aufgefunden. Irmgard Möller überlebte schwerverletzt. Was glaubst du, war es Mord oder Selbstmord?

Keiner von uns war am 18. Oktober ’77 in Stammheim, außer Irmgard Möller. Sie sagt, dass es eine Geheimdienstaktion war. Sie selbst wurde schwer verletzt in dieser Nacht in ihrer Zelle und wachte erst in einem Knastkrankenhaus auf. Was in dieser Nacht geschehen war, weiß ich auch nicht. Ich glaube, Gudrun, Andreas und Jan sind umgebracht worden. Seit der Entführung Schleyers am 5. September waren etwa 80 politische Gefangene in völliger Isolation. Das ganze Klima im Knast spitzte sich so zu, dass ich dachte: »Hier komme ich nicht lebend raus«. Ich war zu dieser Zeit allein in der Zelle.

Gibt es konkrete Vorstellungen, in welchem Auftrag angeblich gemordet wurde?

Nein, das ist nicht klar.

Wenn du die Chance hättest, dein Leben noch einmal zu leben, würdest du dich wieder der RAF anschließen?

Es gibt ein Gedicht von Brecht, da heißt es: »Sie haben uns einen Weg gezeigt.« Das war so etwa die Situation, in der wir waren. Ich meine damit nicht nur uns hier in Westberlin 1970, sondern ich glaube, das gilt auch für viele andere an vielen Ecken der Welt. Viele von uns waren damals 19 oder 20 Jahre alt, und es gab diese bestimmte historische Situation, in der wir uns für das entschieden haben, was uns notwendig schien. Das haben wir, bestimmt nicht genügend, aber mit den Kräften, die wir hatten, getan. Ich denke, dass ich es auch erneut versuchen würde.

Glaubst du, dass der Weg, den die RAF gegangen ist, eine Sackgasse war?

Nein, weder die APO noch die RAF und der Versuch anderer bewaffnet kämpfender sozialrevolutionärer Gruppen in der BRD, wie die »Revolutionären Zellen« und die »Bewegung 2. Juni«, waren Sackgassen. Es waren notwendige Versuche. Was die RAF betrifft, kann ich sagen, dass es ganz bestimmt zahlreiche und massive Fehler in der Entwicklung dieses Widerstandes gab. Doch es waren notwendige Versuche, um herauszufinden, was hier praktisch und politisch möglich ist.

Von den Medien und herrschenden Zirkeln aus wird alles daran gesetzt, eine Ahnung davon, wirklich neue Wege gehen zu können, wie es von der APO, der RAF und anderen Gruppen versucht wurde, mit allen Mitteln zu verzerren, sehr demagogisch zu bekämpfen und zu diskreditieren. Es soll einfach keine Vorstellung mehr davon existieren, dass eine andere Realität möglich ist als die, die es zur Zeit hier gibt. Ich denke, es gelingt ihnen nicht. Ich denke, dass diese Kämpfe und die Menschen – vor allem die, die nicht überlebt haben –, dafür stehen, dass es noch eine andere Realität gibt. Es wird den Herrschenden nicht gelingen, diese gänzlich zu zerstören.

Zählst Du zu den Fehlern, von denen Du vorhin gesprochen hast, auch die Menschen, die ihr Leben auf Grund der RAF-Aktivitäten lassen mussten?

Nein, Tote sind keine Fehler, dazu ist eine menschliche Existenz viel zu wertvoll und kostbar.

Es waren Attentate auf militärische, politische und ökonomische Verantwortliche der BRD, auch auf Verantwortliche der NS-Terrorschaft wie Schleyer, der nach ’45 eine steile Karriere in der BRD machte. Das sind Fragen und Probleme, die noch einmal extra diskutiert werden müssen.

Welchen Weg sollte die Linke in der Zukunft einschlagen?

Lernen, lernen, lernen! (lacht) Die Linke sollte sich nicht durch den Zustand, wie er momentan ist, entmutigen lassen, nicht resignieren, sondern mit anderen zusammenkommen und sich gemeinsam auflehnen gegen eine Politik, die nur auf Zerstörung aus ist. Es geht um unser Leben und unsere Beziehung zueinander, hier und weltweit, für jede und jeden ein würdevolles Leben.

Ganz wichtig ist mir, dass wir die Freilassung derjenigen erreichen, die aus dieser Geschichte kommen und noch immer im Knast sind. Brigitte Mohnhaupt und all die anderen.

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