Weltbewegung des Kapitals
Die imperialistische Phase der Kapitalakkumulation oder die Phase der Weltkonkurrenz des Kapitals umfasst die Industrialisierung und kapitalistische Emanzipation der früheren Hinterländer des Kapitals, in denen es die Realisierung seines Mehrwerts vollzog. Die spezifischen Operationsmethoden dieser Phase sind: auswärtige Anleihen, Eisenbahnbauten, Revolutionen und Kriege. Das letzte Jahrzehnt, 1900–1910, ist besonders charakteristisch für die imperialistische Weltbewegung des Kapitals, namentlich in Asien und dem an Asien angrenzenden Teil Europas: Russland, Türkei, Persien, Indien, Japan, China, sowie in Nordafrika. Wie die Ausbreitung der Warenwirtschaft an Stelle der Naturalwirtschaft und der Kapitalproduktion an Stelle der einfachen Warenproduktion sich durch Kriege, soziale Krisen und Vernichtung ganzer sozialer Formationen durchsetzte, so setzt sich gegenwärtig die kapitalistische Verselbständigung der ökonomischen Hinterländer und Kolonien inmitten von Revolutionen und Kriegen durch. Die Revolution ist in dem Prozess der kapitalistischen Emanzipation der Hinterländer notwendig, um die aus den Zeiten der Naturalwirtschaft und der einfachen Warenwirtschaft übernommene, deshalb veraltete Staatsform zu sprengen und einen für die Zwecke der kapitalistischen Produktion zugeschnittenen modernen Staatsapparat zu schaffen. Dahin gehören die russische, die türkische und die chinesische Revolution. Dass diese Revolutionen, wie namentlich die russische und die chinesische, gleichzeitig mit den direkten politischen Anforderungen der Kapitalsherrschaft teils allerlei veraltete vorkapitalistische Rechnungen, teils ganz neue, sich bereits gegen die Kapitalsherrschaft richtende Gegensätze aufnehmen und an die Oberfläche zerren, bedingt ihre Tiefe und ihre gewaltige Tragkraft, erschwert aber und verzögert zugleich ihren siegreichen Verlauf. Der Krieg ist gewöhnlich die Methode eines jungen kapitalistischen Staates, um die Vormundschaft der alten abzustreifen, die Feuertaufe und Probe der kapitalistischen Selbständigkeit eines modernen Staates, weshalb die Militärreform und mit ihr die Finanzreform überall die Einleitung zur wirtschaftlichen Verselbständigung bilden.
Die Entwicklung des Eisenbahnnetzes widerspiegelt ungefähr das Vordringen des Kapitals. Das Eisenbahnnetz wuchs am raschesten in den 40er Jahren in Europa, in den 50er Jahren in Amerika, in den 60er Jahren in Asien, in den 70er und 80er Jahren in Australien, in den 90er Jahren in Afrika. Die mit dem Eisenbahnbau wie mit den Militärrüstungen verknüpfte öffentliche Anleihe begleitet alle Stadien der Kapitalakkumulation: die Einführung der Warenwirtschaft, die Industrialisierung der Länder und kapitalistische Revolutionierung der Landwirtschaft wie auch die Emanzipation der jungen kapitalistischen Staaten. (…) Die Anleihe übertrug im 16. und 17. Jahrhundert das Kapital aus den italienischen Städten nach England, im 18. Jahrhundert aus Holland nach England, im 19. Jahrhundert aus England nach den amerikanischen Republiken und nach Australien, aus Frankreich, Deutschland und Belgien nach Rußland, gegenwärtig aus Deutschland nach der Türkei, aus England, Deutschland, Frankreich nach China und unter Vermittlung Russlands nach Persien.
In der imperialistischen Periode spielt die äußere Anleihe die hervorragendste Rolle als Mittel der Verselbständigung junger kapitalistischer Staaten. Das Widerspruchsvolle der imperialistischen Phase äußert sich handgreiflich in den Widersprüchen des modernen Systems der äußeren Anleihen. Diese sind unentbehrlich zur Emanzipation der aufstrebenden kapitalistischen Staaten und zugleich das sicherste Mittel für alte kapitalistische Staaten, die jungen zu bevormunden, die Kontrolle ihrer Finanzen und den Druck auf ihre auswärtige Politik, Zoll- und Handelspolitik auszuüben. Sie sind das hervorragendste Mittel, dem akkumulierten Kapital alter Länder neue Anlagesphären zu eröffnen und zugleich jenen Ländern neue Konkurrenten zu schaffen, den Spielraum der Kapitalakkumulation im ganzen zu erweitern und ihn gleichzeitig einzuengen. (…)
In den 30er bis 60er Jahren des 19. Jahrhunderts dienten die Eisenbahnbauten und die hierfür aufgenommenen Anleihen hauptsächlich der Verdrängung der Naturalwirtschaft und der Ausbreitung der Warenwirtschaft. So die mit europäischem Kapital errichteten nordamerikanischen Eisenbahnen, so die russischen Eisenbahnanleihen der 60er Jahre. Hingegen dient der Eisenbahnbau in Asien seit zirka 20 Jahren sowie in Afrika fast ausschließlich den Zwecken der imperialistischen Politik, der wirtschaftlichen Monopolisierung und der politischen Unterwerfung der Hinterländer.
Rosa Luxemburg: Die Akkumulation des Kapitals. Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus. Berlin 1913. Hier zitiert nach: Rosa Luxemburg: Gesammelte Werke, Band 5. Dietz-Verlag, Berlin 1974, Seiten 365–368
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