Befreiung ist möglich
Von Anne Ehrlich und Bodil Reller, KamischloDer Geruch von Diesel liegt schwer in der Luft und in der Nase. Wir hören riesige Generatoren knattern, die die Nachbarschaft mit Strom versorgen. Ob es ohne das Erdöl, das hier mit kleinen Tiefpumpen lokal gefördert wird, Strom gäbe? Nur einen Steinwurf entfernt, hinter der Grenze, sehen wir in der Dunkelheit eine türkische Stadt hell erleuchtet. Wir sind in einem Kriegsgebiet, wir sehen, riechen und spüren es. Es ist unser erster Tag in Kamischlo, einer größeren Stadt im kurdisch geprägten Nordosten Syriens, direkt an der Grenze zur Türkei. Es ist kühl im März und wir dürfen eine Woche lang – begleitet, behütet und versorgt von einer Dolmetscherin der Frauendachorganisation Kongra Star – mit eigenen Augen sehen, mit eigenem Herzen begreifen.
Wir gehen in ein kleines Geschäft, um uns mit Vitaminen zu versorgen. Im Laden ist alles gut sortiert, Obst und Gemüse in allen Varianten. Der Verkäufer steht an der Kasse, während im hinteren Teil des Ladens auf einem Nachrichtensender eine Frau über den bevorstehenden 8. März berichtet: Bilder politisch aktiver Frauen mitten in einem Gemüseladen. Willkommen in Rojava, dem Zentrum der Frauenrevolution. Der Krieg zeigt sich aber nicht nur in der prekären Stromversorgung, sondern auch in der Inflation: Der größte hier verfügbare Geldschein hat umgerechnet einen Wert von 36 Cent, und Menschen müssen ihre Monatsgehälter in Säcken transportieren.
Seit Monaten hat die Türkei die Angriffe auf die Region verstärkt, um die kurdischen Autonomiebestrebungen zu schwächen. Der Tischrin-Staudamm am Euphrat, 280 Kilometer westlich von uns, der große Teile der Region mit Wasser und Strom versorgt, wird bedroht, die Mutigen stellen sich als lebende Schutzschilde auf. Obwohl selbst in der Türkei kurdische Friedensbestrebungen seit wenigen Wochen verstärkt und mit internationaler Aufmerksamkeit stattfinden, greift die Türkei hier im Norden Syriens weiter an. Und im Süden des Landes hat eine dschihadistische Gruppe um ihren Anführer Ahmed Al-Scharaa nach dem Sturz von Baschar Al-Assad die Macht übernommen. Die Frauen in Rojava bangen seitdem wieder um ihre hart erkämpften Rechte.
Autonom und selbstbestimmt
Viele sind stolz auf das, was hier seit 2011 nach Beginn des Krieges in Syrien aufgebaut wurde, nachdem sich Assads Regierung aus Rojava zurückgezogen hatte. Aber was die Frauen hier in den vergangenen zehn Jahren geleistet haben, erfahren wir in Deutschland nicht. Es ist still – als würde dort nicht ein großer gesellschaftlicher Umbruch stattfinden. Die Frauen hier haben sich zusammengeschlossen, verbündet, organisiert und politisiert und so Stück für Stück der männlichen Vorherrschaft den Boden entzogen. Sie haben Frauengesetze erlassen, einen Frauengerechtigkeitsrat und den Nordostsyrischen Frauenrat ins Leben gerufen, ein Frauendorf gegründet, Frauenwissenschaft als eigenständige Fakultät an einer Uni etabliert, einen Frauenfernsehsender aufgebaut, sie haben eine Vielzahl von Anlaufstellen für Frauen geschaffen. Sie haben einander Selbstachtung und Mut zurückgegeben, sich Frauengeschichte angeeignet und gegenseitig Selbstverteidigung beigebracht.
Als die Frauen des »Mala Jin« – dem Haus der Frauen – vor 40 Jahren anfingen, politisch aktiv zu sein, war das, was heute Realität ist, nur eine Vision von einzelnen. Einer der beiden Frauen, die wir treffen, wurde als Mädchen die Bildung versagt, sie hat Folter erlebt und hört deswegen schlecht. Ihre Freundin und Kollegin war Lehrerin. Beide gehören zu der Generation von kurdischen Frauen, die seit Jahrzehnten von Haus zu Haus gehen, sich bei den Frauen nach ihren Sorgen erkundigen, mit ihnen über die Stärken von Frauen sprechen, über Rollenbewusstsein, die ihnen die Frauenstrukturen erklären und ihnen Möglichkeiten gesellschaftlicher Partizipation eröffnen. Dass das erfolgreich war, zeigt sich fast überall. Zu den Errungenschaften, von denen sie berichten, zählen neben den Strukturen, die ausschließlich paritätisch mit einem gemischtgeschlechtlichen »Kovorsitz« organisiert sind, auch die in allen gesellschaftlichen Bereichen vorhandenen autonomen Frauenstrukturen. Sie wurden etabliert, um die Frauen zusätzlich zu stärken.
Gleich zu Beginn der Reise dürfen wir das siebenjährige Jubiläum von Jin TV, dem Frauenfernsehsender, mit den Frauen feiern – und staunen. Denn bei den Feierlichkeiten werden Preise verliehen, von denen einer an einen Mann geht. Und während alle Preisträgerinnen auf der Bühne bleiben, verlässt er sie gleich wieder. Wir erkundigen uns bei unserer Begleiterin nach dem Grund: Er tue das aus Respekt, es wäre ihm peinlich, auf der Bühne zu bleiben. Wir schlucken: Ein Mann überlässt freiwillig Frauen – im wahrsten Sinne des Wortes – die gesamte Bühne? Es wird so bleiben. Die unterstützenden Männer sind da, und sie halten sich im Hintergrund.
Am Internationalen Frauentag dürfen wir dabeisein, als sich mitten im Ramadan Hunderte Frauen und Kinder (und ein paar Männer) trotz Kälte und Regen versammeln. Der 8. März wird hier in ganz anderen Dimensionen gefeiert: Tage davor und danach zieren Wimpel mit Emblemen der Frauenrevolution die Straßen und auch Tage später noch gratulieren uns Frauen zum Frauentag. Überall sind Kameras von Fernsehsendern, es gibt eine große Bühne, Reden und viel Musik, und auch unser Grußwort wird vorgelesen – wir sind alle aufgeregt. Die Stimmung ist aber nicht ernst, sondern ausgelassen und kämpferisch, die traditionellen kurdischen Kleider, die es sehr schwer machen, all die Tanzschritte nachzuverfolgen, gelten ebenso als Festtagskleidung wie die Uniformen der Frauensicherheitskräfte der Asayîşa Jin und die der Frauenkampfeinheiten der YPJ.
Im Kollektiv stark
Eine weitere Uniform ist schwer zuzuordnen, aber eine ganze Truppe trägt sie – wir erfahren, dass diese Frauen zu einer Spezialeinheit gehören, die Einsätze in den Gefangenenlagern mit Kämpfern des »Islamischen Staats« (IS) und deren Angehörigen absolviert, dort neue IS-Zellen auflöst und Waffen entfernt. Frauen, IS, kämpfen – es sind Worte, die auch in unserem Kopf trotz feministischen Bewusstseins einfach nicht zusammengehören wollen. Können Frauen wirklich mit Waffen Islamisten entgegentreten und sie auch noch besiegen? Sind sie dafür mutig und stark genug? Es ist fast peinlich, wie tief auch bei uns der Glaube sitzt, dass Frauen manche Sachen vielleicht doch nicht können.
Als wir schließlich die YPJ besuchen, sitzen vier Vertreterinnen in großen, hellen Sesseln bei uns, ruhig, bestimmt und klar. Es ist sinnbildlich, dass gerade dieser Besuch zu einer Art feministischem Bildungsprogramm wird und bei keinem Treffen so oft das Wort »Frieden« fällt wie hier – bei den autonomen Frauenmilitäreinheiten. Die Männer des IS haben Angst vor ihnen, sie befürchten, nicht in ihren Männerhimmel zu kommen, wenn sie durch die Hände einer Frau sterben. Die Frauen erklären selbstsicher, dass sie ihre Fähigkeiten niemandem mehr beweisen müssten. »Eine Frau, die sich selbst vertraut, kann alle Hindernisse überwinden«, ein Satz, der hier, mitten in der Frauenrevolution, auf gelebter Erfahrung basiert.
Wir werden berührt von der Aussage, dass unter Frauen weltweit Liebe fehle, aber diese essenziell sei, um kollektiv agieren zu können. Es wird gelacht, es wird geweint, es wird Tee getrunken – zum Abschied schenken sie uns allen ein traditionelles kurdisches Tuch – es wird uns in Berlin, mitten im westlich-patriarchalen Männerland, an unsere Kraft und Verbundenheit erinnern.
Auch in Jinwar, einem reinen Frauendorf, sollen Frauen wieder zu ihrer Stärke finden. Als wir dort ankommen, umarmt uns bereits das weiche Licht der späten Nachmittagssonne. Die Bewohnerinnen hatten am Tag zuvor schon Besuch und wollen heute etwas für sich machen: Sie schmeißen freudig die Musikanlage an. Es ist kurz vor dem 8. März und viele tragen deshalb schon ihre bunten Kleider. Eine Jugendliche tanzt mit einer älteren Frau etwas abseits der Reihen, sie wirken vertraut und innig in ihrer Begegnung, die Verbundenheit der Generationen ist hier ganz verkörpert. Später führen die jugendlichen Mädchen des Dorfes eine Performance zu einem Lied für die Proteste gegen das Regime im Iran vor und singen feministische kurdische Lieder. Im Westen kennen wir den Befreiungsruf der kurdischen Frauenbewegung »Jin Jîyan Azadî!«. Frauen Leben Freiheit. Hier in Rojava wachsen die Kinder von klein auf mit dieser mächtigen Botschaft auf und rufen sie selbstsicher.
Viele der Frauen in Nordostsyrien sind aktuell sorgenvoll mit der Frage beschäftigt, wie mit der neuen dschihadistischen Regierung in Damaskus Frieden geschlossen werden kann. Immer wieder fällt das Wort »Frieden« – die Sehnsucht danach ist spürbar, doch die politischen Entwicklungen werden von den Frauen der autonomen Selbstverwaltung mit großer Skepsis und Sorge betrachtet. Das Vorhaben der syrischen Einheit scheint eigentlich unmöglich, denn es stehen sich zwei Gesellschaftsmodelle gegenüber, deren Wertesysteme nicht unterschiedlicher sein könnten: Frauenbefreiung gegen patriarchale Ideologie. Dazu kommt, dass die Entscheidungsgremien der Selbstverwaltung grundsätzlich nicht hierarchisch, sondern von unten nach oben organisiert sind. Wie können sie zusammenarbeiten mit Dschihadisten, die demokratische Prinzipien ablehnen? Die weder Frauen, noch Leben, noch Freiheit achten?
Damaskus, die Hauptstadt von Syrien, ist ein Ort, an dem der Frauenbefreiungskampf, der in Nordostsyrien seit Jahrzehnten geführt wird, wieder von ganz vorne beginnen muss. Während die Frauen der Partei der Demokratischen Einheit PYD – der größten kurdischen politischen Partei – bei unserem Besuch »die Frauenfrage« zur »roten Linie« erklären, konkretisieren die Frauen des Nordostsyrischen Frauenrates, dass für ein Bündnis mit Damaskus die Frauenstrukturen und das System des Kovorsitzes akzeptiert werden müssen. Hier wird nicht mehr klein beigegeben. Die Zeiten des weiblichen Stillschweigens sind vorbei, denn die Frauen haben die Freiheit geschmeckt, was es ihnen schlicht verbietet, sich mit Krümeln und symbolischen Ämtern innerhalb männlicher Strukturen abzufinden.
In tiefer Dankbarkeit kehren wir in unsere patriarchalen, deutschen Verhältnisse zurück und denken an den Internationalen Frauentag: Wir wünschten, wir könnten wie in Kamischlo stundenlang miteinander tanzen, anstatt uns wegen unserer Differenzen zu überwerfen. Uns begleitet von nun an das Wissen, dass eine Veränderung grundlegender patriarchaler Gesellschaftsstrukturen zäh, langsam, aber möglich ist. Dass der Schlüssel unserer Befreiung tatsächlich darin liegt, dass wir als Frauen zusammenkommen und uns autonom organisieren, während wir gleichzeitig in der Gesellschaft wirksam werden. Und dass wir Frauen auf diesem langen Weg viele Fähigkeiten zwingend brauchen: ein enormes Ausmaß an Geduld, Mut zu unserer eigenen Größe, Vertrauen in uns selbst, die beständige Bereitschaft zum Dialog und unerschütterliche Liebe.
Tageszeitung junge Welt am Kiosk
Die besonderen Berichterstattung der Tageszeitung junge Welt ist immer wieder interessant und von hohem Nutzwert für ihre Leserinnen und Leser. Eine gesicherte Verbreitung wollen wir so gut es geht gewährleisten: Digital, aber auch gedruckt. Deswegen liegt in vielen tausend Einzelhandelsgeschäften die Zeitung aus. Überzeugen Sie sich einmal von der Qualität der Printausgabe.
links & bündig gegen rechte Bünde
Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.
Ähnliche:
Orhan Qereman/REUTERS15.10.2025Washingtons Nation Building
Thorsten Strasas08.04.2019Freispruch für Feministin
Stringer/Reuters06.01.2018»Die HDP hat eine stabilisierende Wirkung«
Mehr aus: Wochenendbeilage
-
»Es waren notwendige Versuche«
vom 25.10.2025 -
Weltbewegung des Kapitals
vom 25.10.2025 -
Mücken, Elefanten und Migranten
vom 25.10.2025 -
Auch das Chaos hat Struktur
vom 25.10.2025 -
Palak Paneer
vom 25.10.2025 -
Kreuzworträtsel
vom 25.10.2025