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Aus: Ausgabe vom 20.10.2025, Seite 15 / Politisches Buch
Krise der Unipolarität

Doppelmoral unter Druck

Sanktionspolitik als Schub für die multipolare Welt: Eine lesenswerte Einführung in die Probleme einer »Weltordnung im Umbruch«
Von Dieter Reinisch
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Die neue Weltordnung? Vertreter der BRICS-Staaten bei einem virtuellen Gipfel

Von einer »Zeitenwende« sprach im Februar 2022 der damalige Bundeskanzler Olaf Scholz. Das mit diesem Begriff verbundene politische Programm ist seither vielfach kritisiert worden. Scholz hatte zumindest in einem Punkt recht: Die Welt befindet sich im Umbruch. Doch das globale System verändert sich nicht so, wie es Scholz mit dem Begriff »Zeitenwende« darstellen wollte. Der Umbruch setzte im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts ein, und seine wesentliche Tendenz ist die Untergrabung der alleinigen Supermachtstellung der USA und die Entstehung einer multipolaren Welt. Sogar US-Außenminister Marco Rubio hat das deutlich ausgesprochen: »Es ist nicht normal für die Welt, einfach eine unipolare Macht zu haben. Das war eine Anomalie.«

Es sei ein Ergebnis des Kalten Kriegs gewesen, aber »letztendlich wird man zu einem Punkt zurückkehren, an dem man eine multipolare Welt hatte«, wird Rubio in »Weltordnung im Umbruch« zitiert. Verfasst ist der relativ schmale Band von vier Autoren, die die linke Debatte in Deutschland seit Jahrzehnten prägen: Peter Wahl, Erhard Crome, Frank Deppe und Michael Brie. In ihrem neuen Buch beschäftigen sie sich mit dem Übergang von einer US-dominierten zu einer multipolaren Welt und den damit aufgeworfenen Fragen. Der Aufstieg neuer Mächte bedeute vor allem einen »relativen Abstieg« der USA und des »Westens«, erklären sie.

Mehrere Großmächte in verschiedenen Teilen des Planeten sind am Entstehen, ist sich der bereits zitierte Rubio sicher. Die USA sehen sich in erster Linie mit China und Russland konfrontiert. Genau diese beiden Länder haben nach der weltweiten Finanzkrise im Jahr 2009 begonnen, den Prozess zu formalisieren. Die Initiative zur Gründung des BRICS-Bündnisses ging von Russland aus. Doch wie die Autoren zeigen, hat heute China die Führungsrolle inne. Mit Blick auf die Aufstiegsgeschichte Chinas sprechen die Autoren von einer Aneignung der »Produktionsweise der Bourgeoisie« ab 1978, die zunächst zur »Überwindung der absoluten Armut, eingebettet in einen rasanten wirtschaftlichen Aufstieg der gesamten Gesellschaft«, geführt habe. Damit wurden die Grundlagen geschaffen, um das Land als führende Wissenschafts- und Technologiemacht der Welt zu positionieren.

Dieser Prozess wird immer umfassender und führt zur Stärkung der von China geleiteten internationalen Organisationen und Institutionen. Die BRICS-Bank und die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit sind nur zwei der bekanntesten Entwicklungen. Durch die Stärkung dieser Organisationen konnte sich auch das in den 90er Jahren am Boden liegende Russland wieder zu einer Großmacht entwickeln, argumentieren die Autoren. Russland baut die Institutionen der neuen Multipolarität aus, während 80 Jahre nach der Gründung der Vereinten Nationen und 55 Jahre nach der Helsinkier Deklaration, die zur Gründung der OSZE führte, diese internationalen Organisationen durch die Politik des »Westens«, also der USA und ihrer europäischen Verbündeten, zunehmend paralysiert werden. Das Unvermögen, wirkliche Lösungen für den Krieg in der Ukraine zu finden und den Krieg in Gaza zu stoppen, sind nur die augenscheinlichsten Beispiele. Ein anderes, das ebenfalls von den Autoren besprochen wird, war der Angriff der USA und Israels auf den Iran im Juni.

Es sind die immer mehr sich ausweitenden Kriege, die am Übergang hin zu einer multipolaren Welt stehen, allen voran der Krieg in Osteuropa. Die Autoren gehen daher auch auf dessen Vorgeschichte und Gründe ein und unterstreichen die im Westen übliche Doppelmoral mit Blick auf das internationale Recht. Sie weisen auf das Paradox hin, dass der Westen sich durch seine eigene Politik isoliert: Gerade die Sanktionspolitik ist es, die der Multipolarität einen weiteren Schub verschaffte und die Länder des globalen Südens näher zusammenrücken ließ. Darin liegt das große Potential für eine neue, friedlichere, auf Dialog und Ausgleich basierende Weltordnung. Das sehen allerdings auch in der politischen Linken längst nicht alle so. Auf die Debatten in der Antikriegsbewegung geht das Buch zum Ende hin ein. Lesern, die sich für den globalen geopolitischen Umbruch in der Welt interessieren und eine übersichtliche, nicht aus einer apologetischen Perspektive des »Westens« geschriebene Einführung in die damit verbundenen Fragen suchen, kann dieser Band nachdrücklich empfohlen werden.

Peter Wahl, Erhard Crome, Frank Deppe, Michael Brie: Weltordnung im Umbruch. Krieg und Frieden in einer multipolaren Welt. Papyrossa, Köln 2025, 178 Seiten, 14,90 Euro

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  • Leserbrief von Franz Siklosi aus Einhausen (20. Oktober 2025 um 20:53 Uhr)
    Wäre eine bipolare Welt, mit mehreren kapitalistischen Zentren, eine bessere Welt. Nein! Die BRICS-Staaten und die bisher führenden imperialistischen Mächte sind in einen Wettkampf um die Weltherrschaft. Die innere kapitalistische Dynamik sorgt dafür. Der Aufstieg Chinas erfolgte durch die Einführung von Wirtschaftsonderzonen. Darin schufteten Millionen in frühkapitalistischen Verhältnissen. Es entstand eine neue Kapitalistenklasse. Mit einer Staatsführung, die während der Kulturrevolution inhaftiert war. Wie soll China jemals sozialistisch werden? Wann will die chinesische Führung ihre Kapitalisten enteignen? Eine Grundvoraussetzung des Sozialismus! Russland ist ein kapitalistischer Staat. Alle Klassenfeinde des Sozialismus sind rehabilitiert. Russland verbündet sich mit staatsterroristischen Staaten. Weitere BRICS-Staaten stehen nicht einmal auf der Stufe einer bürgerlichen Gesellschaft. Wir haben mehrere alte und neue imperialistische Mächte im gegenseitigen Kampf um Bodenschätze und Menschenmaterial. Pech, dass gerade eine Phase der Überproduktionen und Überakkumulationen vorherrscht. Was tun? Man sollte sich an Lenin orientieren. Er hat sich gegen jede Art von »Vaterlandsliebe« gewandt. Nur der Internationalismus aller Ausgebeuteten kann den Imperialismus besiegen. Eine gewaltige Aufgabe. Aber wäre Gaza erst gar nicht möglich gewesen, wenn sich alle Kriegsgegner auf beiden Seiten gegen ihre Ausbeuter verbündet hätten. Dasselbe im Krieg Russland–Ukraine oder in jedem anderen Krieg?
  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (20. Oktober 2025 um 10:01 Uhr)
    Ich würde hier weniger von »Doppelmoral« sprechen, sondern vielmehr von einer fehlgeleiteten Ideologie des sogenannten Wertewestens. Diese Ideologie hat – anstatt den freien, rationalen und gleichberechtigten globalen Handel zu fördern – genau das Gegenteil bewirkt: Der Westen hat sich durch seine Politik de facto selbst sanktioniert und geschwächt. Das zugrunde liegende Problem ist die Überzeugung, dass alle anderen Länder nach westlichen Wertmaßstäben leben und handeln müssten. Gerade dieses missionarische Selbstverständnis hat verhindert, dass nach dem Ende des Kalten Krieges eine wirkliche Integration Russlands in das westliche System stattfand – eine historische Chance, die vertan wurde. Europa ist in diesem Prozess nicht gestärkt, sondern im Gegenteil durch die enge Bindung an die geopolitischen Interessen der USA wirtschaftlich und politisch geschwächt worden. Der Westen hat durch seine Politik letztlich Russland in die Arme Chinas getrieben – besonders deutlich wurde dies mit der Eskalation des Ukraine-Krieges, der zu einer neuen strategischen Allianz zwischen Moskau und Peking geführt hat. Es handelt sich weniger um Doppelmoral als um eine ideologisch motivierte Fehlentwicklung in der westlichen Politik. Der Wertewesten predigt universelle Werte, während seine Politik auf Konfrontation, Sanktionen und Abgrenzung setzt. Ironischerweise hat gerade die Globalisierung – ursprünglich ein Projekt des Westens – in Verbindung mit der digitalen Revolution dazu geführt, dass neue Machtzentren entstanden sind. Diese »antiwestlichen« Akteure nutzen die entstandenen Spielräume geschickt, um ihre Chancen zu ergreifen und eine multipolare Weltordnung zu gestalten, die zunehmend an Einfluss gewinnt.

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