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Aus: Ausgabe vom 20.10.2025, Seite 11 / Feuilleton
Theater

Vergessliche Gespenster

Das Maxim-Gorki-Theater Berlin eröffnete die neue Spielzeit mit der Spukrevue »Das rote Haus«
Von Sabine Lueken
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»Die Straßen und Menschen in Berlin waren für mich wie ein Film, aber ich spielte nicht mit« – Emine Sevgi Özdamar

»Das rote Haus« steht auf der Bühne des Gorki-Theaters, eine Reminiszenz an das rot gestrichene Haus in der Kreuzberger Stresemannstraße 30 (das heutige Paul-Singer-Haus, im Besitz der SPD, direkt neben der Parteizentrale). Es diente in den 60er Jahren als Wohnheim für »Gastarbeiterinnen«, die bei Telefunken arbeiteten. Im 19. Jahrhundert befand sich dort eine Kadettenanstalt, in der unter anderem der spätere Reichskanzler Otto von Bismarck preußisch gedrillt wurde (»Meine Kindheit hat man mir in der Plamannschen Anstalt verdorben, die mir wie ein Zuchthaus vorkam«). Auch er spukt am Abend auf der Bühne herum, als ein »eisernes Gespenst deutscher Identität«, wie der Abendzettel verkündet. Frank Büttner, der später noch einen komödiantischen Auftritt als Helene Weigel hat, spielt ihn knarzig brüllend.

»Das rote Haus« ist zugleich eine vorwurfsvoll gemeinte Bezeichnung von Kritikern für das Gorki, wie wir von Shermin Langhoff erfahren. Sie eröffnete am 2. Oktober mit der Uraufführung des von ihr »kuratierten« Stücks die letzte Spielzeit, die sie als Intendantin des Gorki verantwortet. Den Rahmen bildet der »Berliner Herbstsalon«. Diese sehenswerte Kunstausstellung – im und um das Gorki herum, vor allem aber im labyrinthischen Palais am Festungsgraben angesiedelt – knüpft an Herwarth Waldens »Ersten Deutschen Herbstsalon« von 1913 an. Der konnte wegen des Ersten Weltkriegs nur einmal stattfinden – der jetzige hat es immerhin auf dreizehn Ausgaben gebracht.

»Das rote Haus« (Regie und Bühnenbild: Ersan Mondtag) ist ein »Haunted House«: ein Bahnhofswartesaal im Dämmerlicht oder ein Pflegeheim, in dem demente Frauen nach ihren Enkelinnen suchen und hin und wieder aufs Klo schlurfen. Man hört sie deutlich Pipi machen, der Running Gag des Abends.

Allmählich schälen sich Geschichten heraus. Jeder der vier Frauen ist eine Doppelgängerin beigegeben, zunächst als Pflegerin, später als jüngeres Ich. Im Schnelldurchlauf stellen sie ihre Biographien vor, unterlegt mit scherenschnittartigen Animationsfilmen (Luis August Krawen), die das Gesagte illustrieren.

Warum sind die Frauen nach Deutschland gekommen? Ihre Familiengeschichten sind von Verfolgung und dem Willen zur Emanzipation geprägt. Canan, die Stille, Nachfahrin sephardischer Juden (Eva Maria Keller), Yüksel, die Resolute, (Sema Poyraz), griechischstämmig, Keriman, die ewig Junge, aus großbürgerlicher türkischer Familie (Semra Uysallar) und Saadet, die Streitsüchtige (Ursula Werner), deren Familie aus dem Kaukasus stammt. Sie alle wollten der Enge der Heimat und der Strenge der Eltern entfliehen.

Im Pflegeheim steht ein Fernseher, aus dem zwischendurch Gruselnachrichten schnarren – mitgesprochen vom Heimleiter (Emre Aksizoğlu). Schon von Beginn an – »So können wir nicht auf große Reise gehen« – gibt es Vorausdeutungen auf das unausweichlich sich anbahnende schreckliche Ende. Daran kann auch der freundliche Seyyare Anatolian Women’s Choir (Leitung: Sema Moritz) nichts ändern. In modischen rosafarbenen Kleidern und riesigen Hüten im Stil der 50er Jahre (Kostüme: Josa Marx) singt er von der oberen Etage des Hauses herab türkische Lieder von Liebe, Verlust und Sehnsucht.

Wenn sich im Haus das Tor zur Hölle zum ersten Mal öffnet, werden die vier jungen Frauen (Yanina Cerón, Via Jikeli, Flavia Lefèvre und Çiğdem Teke) an ihrem Arbeitsplatz bei Telefunken gezeigt: Sie löten Elektronenröhren. Auch die Firma Telefunken hat eine Geschichte – sie produzierte in der Nazizeit den Volksempfänger und trug, nebenbei bemerkt, schon kurz vor dem Ersten Weltkrieg mit ihrer damals führenden Kurzwellenfunktechnik zur Niederschlagung von Aufständen in den deutschen Kolonien in Afrika bei.

Im Wohnheim leben sie zu viert in einem Zimmer, können nicht schlafen, gehen aus (»Was kommst du so spät, du Nutte?«), müssen aufs Klo (s. o.) oder erleben »Erotik« am Wannsee und unter der Bettdecke. Sie kaufen bei Hertie ein, fürchten sich vor Demonstrationen und bekommen Deutschunterricht vom kommunistischen Heimleiter (»Marx ist zu schwer für euch«). Durchs Fenster scheint als ewiger Mond das Licht vom gegenüberliegenden Hebbel-Theater – oder das Feuer explodierender Bomben.

Das Material für das Stück basiert auf Interviews mit ehemaligen Bewohnerinnen, darunter die Schriftstellerin (und »Maîtrise de Théâtre«) Emine Sevgi Özdamar. Ihre Romane »Die Brücke vom Goldenen Horn« und »Seltsame Sterne«, in denen sie mit ihrem eigenwilligen Humor Erinnerungen an das »Wonaym« und an ihre Zeit als Regieassistentin an der Ostberliner Volksbühne festhielt, bilden die zweite Quelle.

Viele Themen werden angerissen und versinken wieder im Vergessen: Arbeitskämpfe, Akkordarbeit, Sozialisten, Kommunisten, Erinnerungen ans Theater, Brecht, Matthias Langhoff, Otto-Mühl-Kommune. Demenz dient – so klärt uns der Abendzettel auf – hier als »Metapher für das vergreisende Geschichtsbewusstsein«, für unsere täglich zunehmende historische Amnesie. Das geht auf Kosten der Frauenfiguren, die als Individuen kaum zu unterscheiden sind: Alte Frauen sind dement, haben schwache Blasen, reden wirres Zeug und haben vieles vergessen. So kippt das Spiel mit Erinnerung ins diffamierende Klischee.

Wenn sich das Tor zur Hölle ein zweites Mal öffnet, rollt ein offener Zugwaggon mit Hockern herein. Die alten Frauen, jetzt schwarz gekleidet, müssen aufsteigen und werden abtransportiert – ein Bild, das unweigerlich an die Deportationen in NS-Vernichtungslager erinnert. Remigration – das Schlimme, das die ganze Zeit in der Luft lag, nimmt Gestalt an – und kulminiert in überzogenem Pathos. Aus dem Off tönt »Wir sind das Volk«-Gegröle. Die Enkelin sagt: »Ich heiße nicht mehr Sarah!« – »Ach …«. Wir leben in finsteren Zeiten.

Nächste Aufführungen: 7.11., 26.11.

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