Zu Gast beim Exfeind
Von Wiebke Diehl
Der sich selbst zum Übergangspräsidenten Syriens ernannte Ahmed Al-Scharaa hat bei seinem Besuch in der russischen Hauptstadt Forderungen aufgestellt. So verlangte er am Mittwoch von Moskau, laut einer syrischen Quelle, die Reste der Streitkräfte der im vergangenen Dezember gestürzten Regierung von Baschar Al-Assad nicht zu unterstützen oder wiederzubewaffnen. Statt dessen solle Moskau beim Aufbau der Armee des ehemals von den USA per Kopfgeld gesuchten Al-Qaida-Terroristen Abu Muhammad Al-Dscholani, der sich inzwischen mit seinem bürgerlichen Namen Al-Scharaa ansprechen lässt, helfen. Erwartet wurde, dass Damaskus auch die Auslieferung Assads fordern wird, der sich im russischen Exil befindet.
Nach Angaben des stellvertretenden russischen Ministerpräsidenten Alexander Nowak wurde vereinbart, in naher Zukunft ein gemeinsames Treffen der zwischenstaatlichen Kommission abzuhalten, um über Unterstützung beim Wiederaufbau Syriens zu verhandeln. Insbesondere der Energie-, der Eisenbahn- und der Transportsektor müssten wieder errichtet werden, so Nowak weiter. Zudem sollten humanitäre Hilfsgüter geliefert werden. Al-Scharaa versprach, alle bisherigen Vereinbarungen mit Moskau zu respektieren, womit nicht zuletzt die russischen Militärbasen in Syrien gemeint sind. Es gebe »langjährige historische Verbindungen« sowie »gemeinsame Interessen« zwischen beiden Ländern. »Die Brücken der Zusammenarbeit« seien solide, »einschließlich der wirtschaftlichen Zusammenarbeit«.
Auch Präsident Wladimir Putin sprach gegenüber Al-Scharaa, der seinen ersten Besuch in Russland absolvierte, davon, dass beide Länder »über viele Jahre hinweg besondere Beziehungen aufgebaut« hätten. Zur Erinnerung: Moskau hat mehr als neun Jahre lang auf seiten der Regierung Assad Krieg gegen vom Westen, von den Golfstaaten, der Türkei und Israel zwecks Regime-Change unterstützte Terroristen, darunter die Haiat Tahrir Al-Scham (HTS) von Al-Dscholani, geführt. Putin lobte auch die jüngsten Parlamentswahlen in Syrien und bezeichnete diese als bedeutende Errungenschaft, die die nationale Einheit in schwierigen Zeiten fördern könne. Allerdings kann von einer demokratischen Abstimmung kaum die Rede sein. Vielmehr wurden bei dem Anfang Oktober abgehaltenen Votum 140 Abgeordnete durch Wahlleute, die dem von Al-Scharaa ernannten Obersten Komitee angehören, bestimmt und weitere 70 durch den »Präsidenten« ernannt.
Mitte September hatte Al-Scharaa gegenüber dem staatlichen Fernsehsender Al-Ikhbarija gesagt, er und seine HTS-Truppen hätten die Macht in Damaskus im Rahmen eines Abkommens mit Russland übernommen. Es hätten während der elftägigen Offensive geheime Verhandlungen mit dem damaligen Verbündeten Assads stattgefunden, in deren Folge sich das russische Militär aus den Kämpfen herausgehalten habe. Im Gegenzug habe man von einem Angriff auf den russischen Luftwaffenstützpunkt Hmeimim abgesehen. Laut einem ehemaligen syrischen Offizier, der sich entsprechend gegenüber dem Portal The Cradle äußerte, habe Moskau Syrien schon in den Jahren vor dem Sturz Assads regelmäßig daran gehindert, sich gegen israelische Luftangriffe zu verteidigen. »Die Russen haben uns lange vor dem 8. Dezember verraten«, so der Offizier. Unterdessen foltern, entführen, vergewaltigen und massakrieren die sogenannten Sicherheitskräfte Al-Scharaas, die sich in erster Linie aus Kämpfern extremistischer Milizen zusammensetzen, seit ihrer Machtübernahme Minderheiten und nehmen die fortschreitende israelische Besatzung im Süden des Landes tatenlos hin.
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Leserbrief von Fred Buttkewitz aus Ulan - Ude (17. Oktober 2025 um 02:58 Uhr)»Laut einem ehemaligen syrischen Offizier, der sich entsprechend gegenüber dem Portal The Cradle äußerte, habe Moskau Syrien schon in den Jahren vor dem Sturz Assads regelmäßig daran gehindert, sich gegen israelische Luftangriffe zu verteidigen. «Die Russen haben uns lange vor dem 8. Dezember verraten», so der Offizier.« Ohne die UdSSR und ohne Russland würde Syrien seit Jahrzehnten zu Israel gehören. Wenn Syrien in der Lage gewesen wäre, erfolgreich gegen Israel Krieg zu führen – warum haben sie es dann nicht getan? Wenn Russland das nicht für sie übernahm, nicht in einen Konflikt mit Israel verwickelt werden wollte, ist das noch lange kein Verrat. Ein großer Teil der israelischen Bürger stammt aus Russland. Russland hat absolut kein Interesse daran, gegen Menschen mit dieser Familiengeschichte zu kämpfen. Man darf davon ausgehen, dass sich dieser Offizier im Ausland befindet, wie auch große Teile der seit Jahren dorthin desertierten wehrpflichtigen Massen junger Männer aus Syrien. Während zusätzlich ein großer Anteil der verbliebenen syrischen Armee es in der Endphase ablehnte zu kämpfen und die neuen Machthaber nahezu ohne Widerstand in Damaskus einmarschierten, geben sie nun Interviews über den »Verrat« der Russen. Auch Armenien anerkannte selbst Karabach als aserbaidschanisches Territorium und weigerte sich, eigene Truppen für Karabach in den Kampf zu schicken. Russland sollte das für sie übernehmen, wozu es vertraglich überhaupt nicht verpflichtet war, da kein armenisches Territorium angegriffen wurde. In beiden Fällen las ich dann in jW irgend etwas über angeblichen russischen »Verrat«. Den gab es schon, als Gorbatschow das Angebot von Kohl und Genscher ablehnte, eine Liste von führenden DDR-Funktionären zu erstellen, die dann Immunität vor der BRD-Justiz genießen sollten. Der krebskranke Erich Honecker wurde schließlich als angeblich gesund aus Moskau nach Berlin ausgeliefert. Bei Putin darf man sicher sein, dass er Assad nicht ausliefern wird.
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