Werte und Staatsräson
Von Reinhard Lauterbach, Poznań
Soll Polen den angeblichen ukrainischen Nord-Stream-Saboteur ausliefern? Der Vollzug eines »Europäischen Haftbefehls« ist eigentlich eine Formalie. Das Land, das die Auslieferung begehrt, stellt einen Antrag, und das Land, das ausliefern soll, entscheidet über einige formale Kriterien. Ausschlaggebend ist, ob die vorgeworfene Tat in beiden Ländern strafbar ist. Eigentlich kein Problem, sollte man denken: Schwere Sachbeschädigung sollte mindestens drin sein. Dass die Bundesanwaltschaft mit ihrem Rechtskonstrukt von der »verfassungsfeindlichen Sabotage« die Sache politisiert hat, zeugt schon fast davon, dass sie Polen eine Ablehnung leicht machen will.
Polens Justiz und politische Klasse wurden ohnehin kreativ. Zuerst wurde die Frage, ob die Tat in beiden Ländern strafbar sei, verwandelt in die Frage, ob sie in Polen strafbar gewesen wäre. Und siehe da: Quer durch das politische Spektrum heißt es, die Sprengung von Nord Stream habe nicht nur Polen nicht geschädigt – was sicher stimmt, aber auch keine Voraussetzung für die Bewilligung eines Europäischen Haftbefehls ist –, sondern habe genau umgekehrt in Polens wohlverstandenem Sicherheitsinteresse gelegen. Von Außenminister Radosław Sikorski ist bekannt, dass er das Projekt Nord Stream schon vor Jahren eine Neuauflage des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts von 1939 genannt hat, und jetzt soll er gesagt haben, dem mutmaßlichen Mittäter gebühre in Polen ein Orden und keine Abschiebung. Regierungschef Donald Tusk äußerte die »Erwartung«, dass die Justiz das deutsche Ansinnen zurückweisen werde, und sein Justizminister Waldemar Żurek, selbst Richter und als Vorkämpfer für die »Unabhängigkeit der Justiz« bekannt, sagt kein Wort dazu. Der Chef des Staatspräsident Karol Nawrocki zuarbeitenden »Büros für nationale Sicherheit«, Sławomir Cenckiewicz, forderte gleich die deutsche Justiz auf, die Ermittlungen gegen den Ukrainer einzustellen. Was schon gegenüber der polnischen Justiz eine Unverschämtheit wäre, ist es gegenüber der deutschen erst recht. Mit anderen Worten: Die angebliche Unabhängigkeit der Justiz aus dem Lehrbuch des bürgerlichen Rechtsstaats entblößt sich als hohles Gerede.
Die polnische Argumentation bügelt gleich noch einen weiteren »rechtsstaatlichen Grundwert« platt: den Schutz des Eigentums. Es ist immerhin das Rechtsgut, das im Fall der Ostseepipeline auf flagrante Weise verletzt wurde. Wenn es aber russisches ist, wie im Falle von Nord Stream, wird es mit dem Argument, die Leitung habe »Russlands Krieg finanziert«, für vogelfrei erklärt, so als wäre der Eigentümer nicht frei, mit der ihm gehörenden Sache nach Belieben zu verfahren.
Letztlich ist es ja auch egal, ob der Ukrainer aus Pruszków vor einem deutschen Gericht landet: Die Leitung ist kaputt, das billige russische Gas ist weg, und wer den Schaden hat wie die BRD, muss für den Spott nicht mehr sorgen.
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