Spiel der Halbwahrheiten
Von Reinhard Lauterbach
Das sicherste Zeichen, dass etwas nicht rund läuft mit dem Ukraine-Krieg, ist, wenn ehemals führende Politiker anfangen, über verpasste Chancen zum Frieden zu räsonieren. So wie jetzt Altkanzlerin Angela Merkel. Sie hat dem ungarischen Onlinemedium Partizan ein Interview gegeben und darin unter anderem erklärt, sie habe im Sommer 2021 gemeinsam mit Emmanuel Macron versucht, ein Gesprächsformat der gesamten EU mit Russland ins Leben zu rufen. Dies hätten Polen und die baltischen Staaten sabotiert, und das habe womöglich Wladimir Putin in seinem Entschluss bestärkt, die Ukraine anzugreifen.
Jetzt ist natürlich in Polen die Aufregung groß. Medien titeln »Merkel gibt Polen Mitschuld am Ukraine-Krieg« oder so ähnlich, und der frühere Ministerpräsident Mateusz Morawiecki nannte sie in einem Posting auf X die »schädlichste Politikerin, die die EU jemals hatte«. Aufschlussreich allerdings, dass Paweł Jabłoński, ein anderer PiS-Politiker, auf derselben Plattform Merkels Darstellung der Abläufe im Sommer 2021 im Kern bestätigte: Jawohl, Polen und die Balten hätten auf EU-Ebene die Beschlussfassung über die direkten Verhandlungen auf der Linie EU–Russland verhindert, weil sie hätten verhindern wollen, dass sich die BRD und Frankreich unter Merkels Kanzlerschaft mit Putin verständigten und die Ukraine an Russland auslieferten. Dann hätte, so immer noch Paweł Jabłoński, Putin bekommen, was er gewollt habe (soll er nicht nach heutiger Lesart ganz Europa erobern wollen?), und die BRD auch: billiges russisches Gas. Mit anderen Worten: Die Tatsache der Sabotage dieses – in der Rückschau betrachtet – letzten Vermittlungsversuchs durch Warschau und die baltischen Staaten wird von polnischer Seite nicht einmal bestritten, und dass diese Länder eine deutsch-russische Verständigung fürchten wie der sprichwörtliche Teufel das Weihwasser, ist hinlänglich bekannt.
Ebensowenig allerdings ist zu bestreiten, dass sich Merkel jetzt nicht übermäßig glaubwürdig als verhinderte Friedensstifterin darstellt. Schließlich hat sie in einem Zeit-Interview Ende 2022 selbst eingeräumt, dass sie die von ihr mit eingefädelten Minsker Vereinbarungen nie ernstgenommen und außerdem hingenommen hat, dass die Ukraine deren politischen Teil nicht erfüllte. Ziel, so Merkel damals, sei es gewesen, der Ukraine die Zeit zu geben, ihre Armee wieder aufzubauen und »Kräfte zu sammeln« (wie sie es jetzt formuliert hat). Aber sich dann – in dem ungarischen Interview – öffentlich wundern, dass Wladimir Putin Minsk »nicht mehr recht ernstgenommen« habe. Zum guten Schluss muss wieder einmal die Pandemie herhalten, die es dem infektionsfürchtenden Putin unmöglich gemacht habe, ihr, Merkel, in ihre treuen Augen zu schauen und zu glauben, dass sie ihn nicht übervorteilen wolle.
Ob Putin so naiv gewesen wäre, kann man dahingestellt sein lassen. Aber dass Merkel mit Halbwahrheiten operiert, sollte man im Hinterkopf behalten, bevor man sie lobt.
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