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Aus: Ausgabe vom 07.10.2025, Seite 8 / Ansichten

Spiel der Halbwahrheiten

Merkel äußert sich zum Ukraine-Krieg
Von Reinhard Lauterbach
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Protest gegen NATO-Gipfel: Nach und nach kommt heraus, wie über die Ukraine gelogen wurde (Brüssel, 13.6.2021)

Das sicherste Zeichen, dass etwas nicht rund läuft mit dem Ukraine-Krieg, ist, wenn ehemals führende Politiker anfangen, über verpasste Chancen zum Frieden zu räsonieren. So wie jetzt Altkanzlerin Angela Merkel. Sie hat dem ungarischen Onlinemedium Partizan ein Interview gegeben und darin unter anderem erklärt, sie habe im Sommer 2021 gemeinsam mit Emmanuel Macron versucht, ein Gesprächsformat der gesamten EU mit Russland ins Leben zu rufen. Dies hätten Polen und die baltischen Staaten sabotiert, und das habe womöglich Wladimir Putin in seinem Entschluss bestärkt, die Ukraine anzugreifen.

Jetzt ist natürlich in Polen die Aufregung groß. Medien titeln »Merkel gibt Polen Mitschuld am Ukraine-Krieg« oder so ähnlich, und der frühere Ministerpräsident Mateusz Morawiecki nannte sie in einem Posting auf X die »schädlichste Politikerin, die die EU jemals hatte«. Aufschlussreich allerdings, dass Paweł Jabłoński, ein anderer PiS-Politiker, auf derselben Plattform Merkels Darstellung der Abläufe im Sommer 2021 im Kern bestätigte: Jawohl, Polen und die Balten hätten auf EU-Ebene die Beschlussfassung über die direkten Verhandlungen auf der Linie EU–Russland verhindert, weil sie hätten verhindern wollen, dass sich die BRD und Frankreich unter Merkels Kanzlerschaft mit Putin verständigten und die Ukraine an Russland auslieferten. Dann hätte, so immer noch Paweł Jabłoński, Putin bekommen, was er gewollt habe (soll er nicht nach heutiger Lesart ganz Europa erobern wollen?), und die BRD auch: billiges russisches Gas. Mit anderen Worten: Die Tatsache der Sabotage dieses – in der Rückschau betrachtet – letzten Vermittlungsversuchs durch Warschau und die baltischen Staaten wird von polnischer Seite nicht einmal bestritten, und dass diese Länder eine deutsch-russische Verständigung fürchten wie der sprichwörtliche Teufel das Weihwasser, ist hinlänglich bekannt.

Ebensowenig allerdings ist zu bestreiten, dass sich Merkel jetzt nicht übermäßig glaubwürdig als verhinderte Friedensstifterin darstellt. Schließlich hat sie in einem Zeit-Interview Ende 2022 selbst eingeräumt, dass sie die von ihr mit eingefädelten Minsker Vereinbarungen nie ernstgenommen und außerdem hingenommen hat, dass die Ukraine deren politischen Teil nicht erfüllte. Ziel, so Merkel damals, sei es gewesen, der Ukraine die Zeit zu geben, ihre Armee wieder aufzubauen und »Kräfte zu sammeln« (wie sie es jetzt formuliert hat). Aber sich dann – in dem ungarischen Interview – öffentlich wundern, dass Wladimir Putin Minsk »nicht mehr recht ernstgenommen« habe. Zum guten Schluss muss wieder einmal die Pandemie herhalten, die es dem infektionsfürchtenden Putin unmöglich gemacht habe, ihr, Merkel, in ihre treuen Augen zu schauen und zu glauben, dass sie ihn nicht übervorteilen wolle.

Ob Putin so naiv gewesen wäre, kann man dahingestellt sein lassen. Aber dass Merkel mit Halbwahrheiten operiert, sollte man im Hinterkopf behalten, bevor man sie lobt.

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  • Leserbrief von Richard Jawurek aus Markkleeberg (8. Oktober 2025 um 12:46 Uhr)
    Es passiert relativ selten, dass Politiker nach aktiven Amtszeiten, meist sukzessiv, gängige opportune Doppelmoral eingestehen. Plagt sie ihr Gewissen angesichts des verhinderbaren Krieges? Hätte Frankreich und Deutschland den Verhinderern/Eskalierern
    in Polen sowie im Baltikum klarmachen können, notfalls ohne sie mit Russland zu sprechen, um den, alle Seiten massiv schädigenden, Krieg abzuwenden? Pastorentochter Angela Merkel fand im westlichen Politikbetrieb keine christliche Nächstenliebe und wär niemals auf »Ich liebe doch alle« gekommen. Die allseits gelobte Pragmatikerin begriff früh, dass es stets um Durchsetzung konkreter Interessen inklusive effektiver Strategien dahin ging. Amtseide und nachfolgendes Handeln unterliegen damit den aktuellen Vorgaben wirtschaftspolitischer Taktgeber. Dazu sind Halbwahrheiten sehr viel wirksamer, da glatte Lügen durchschaubarer sind.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Ulf G. aus Hannover (8. Oktober 2025 um 12:33 Uhr)
    Natürlich hat Merkel sich geweigert, ihrer Verpflichtung nachzukommen, zur Umsetzung der Minsker Abkommen zu drängen. Damit hat sie nicht unerheblich zur Eskalation des Donbass-Krieges am 24.2.2022 beigetragen. Daneben bleibt aber die osteuropäische Russenfeindlichkeit eine der entscheidenden Triebfedern des Konfliktes. Speziell wären da diverse Versuche zu nennen, das Nord-Stream-2-Projekt zu hintertreiben, was von russischer Seite natürlich als Angriff auf russische Interessen gewertet werden musste. 2016 beklagte sich die Ukraine etwa bei der EU-Kommission über das Projekt: »Wir bitten die EU-Kommission, eine Ermittlung aufzunehmen und dieses antiukrainische, antieuropäische, antislowakische und antipolnische Projekt zu stoppen. Wir wollen es den Russen nicht erlauben, uns auszuspielen« (sputniknews.com). Auch Trump gefiel sich 2018 in seinem Vorhaben, einen Keil zwischen Deutschland und Russland zu treiben »by blasting Germany as «totally controlled» and «captive by Russia» over a natural gas pipeline project, known as the Nord Stream 2« (cbsnews.com). Trumps Botschafter Grenell sekundierte mit der Verteidigung der US-Sanktionen gegen Nordstream: »15 EU-Staaten, das Europaparlament und die EU-Kommission« seien gegen das Projekt (jW 23.12.2019). Während die westliche Staatenwelt sich selber die militärische Verteidigung von Handelswegen gestattet, geht sie offenbar ganz selbstverständlich davon aus, dass Russen zu keinerlei Gegenreaktionen berechtigt seien, wenn man ihnen ein Geschäft kaputt macht. Als ob Russen minderwertige Subjekte seien. Man will ihnen ja auch die völkerrechtlich zustehenden Selbstbestimmungsrechte im Donbass absprechen. Die auch Jahrzehnte nach dem Zerfall des Ostblocks und der Sowjetunion irrationalerweise immer noch grassierende Russenfeindlichkeit wird durchaus zu Recht von russischer Seite als Gefahr wahrgenommen. Leider tat und tut man im Westen nichts gegen diesen Rassismus. Ganz im Gegenteil: Man füttert ihn mit Waffen.
  • Leserbrief von Fred Buttkewitz aus Ulan - Ude (7. Oktober 2025 um 03:55 Uhr)
    Deutschland unter Merkels Führung hatte nicht erst seit 2014 nach den USA den meisten Einfluss auf die Ukraine, als führende Wirtschaftskraft in der EU. Dieser Einfluss erstreckte sich auf Wirtschaft, Finanzierung von Unternehmen und Projekten, Finanzierung und Ausbildung der Armee, Zusammenarbeit der Geheimdienste, Propaganda, Lieferung von Daten usw. Über diesen deutschen Einfluss wurden alle Geschehnisse in der Ukraine mitgesteuert, auch über den Verzicht, auf das durch einen Putsch in Kiew an die Macht gekommene Regime wirtschaftlichen Druck, einschließlich Sanktionen, auszuüben. Wo war denn da das 19. Sanktionspaket? Der Donbass war – aus Sicht Wladimir Putins – bis 2022 Ukraine. Moskau anerkannte die Volksrepubliken im Donbass nicht an. Ich selbst erlebte lange und strenge Grenzkontrollen, als ich 2019 und 2021 Russland zu Gastkonzerten in Donezk verließ. Putin setzte sich damit innerhalb Russlands erheblicher Kritik z. B. mehrerer Parteien aus, die bereits 2014 eine diplomatische Anerkennung forderten. Die Merkel-Regierung dagegen anerkannte die nicht gewählten Putschisten in Kiew sofort, während sie der gewählten Regierung Venezuelas die Anerkennung verweigerte, Venezuela mit Sanktionen belegte und den ebenfalls nicht gewählten Präsidenten-Darsteller Guido anerkannte. Die Schuld Merkels besteht nicht darin, dass sie »versehentlich« die Namen Ukraine und Venzuela vertauschte, sondern darin, dass sie planmäßig mit Hilfe der Putschisten Kiew in die EU und NATO ziehen wollte, die Ukraine in all ihren Handlungen unterstützte, auch wenn diese acht Jahre lang eigene Landsleute im Donbass beschoss. Hat Angela Merkel auch nur einmal bei einem Interview oder einer Rede im Bundestag das Massaker 2014 im Gewerkschaftshaus Odessa auch nur erwähnt? Wenn es um deutsche Interessen ging, war Krieg und von Deutschland gesteuerter oder unterstützter Regierungsumsturz in der Ukraine bzw. Russland stets Mittel zum Zweck, 1914, 1917, 1918, 1920, 1941, 2014.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (6. Oktober 2025 um 20:01 Uhr)
    Man kann zu Frau Merkel stehen, wie man will. Man muss ihr eine Glanztat zugestehen: Sie hat den Begriff »Staatsräson« zurück in den alltäglichen Sprachgebrauch gebracht. Da sie den Karlspreis schon erhalten hat, bleibt eigentlich nur noch der Literatur- oder Friedens-Nobelpreis. Letzteren könnte sie sich mit Trump teilen.

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