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Aus: Ausgabe vom 08.10.2025, Seite 10 / Feuilleton
Theater

Methodischer Kniff

Die von der Künstlerin Candice Breitz konzipierte Revue »A Song for Esther« zur Spielzeiteröffnung vom Hamburger Kampnagel
Von Matthias Reichelt
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Esther Bejarano

Mit stürmischem Applaus endete im ausverkauften Saal vom Kampnagel in Hamburg am 4. Oktober die von Candice Breitz konzipierte Revue »A Song for Esther«, bestehend aus ihrem Video und ihren Briefen an Esther Bejarano, die sie zwischen den Musikeinlagen internationaler Künstlerinnen und Künstler unterschiedlicher Genres vorlas. Die Stadtkuratorin in Hamburg, Joanna Warsza, hatte Breitz ursprünglich eingeladen, an dem von Esther Shalev-Gerz und Jochen Gerz 1983 konzipierten »Mahnmal gegen den Faschismus« in Hamburg-Harburg eine performative Arbeit zu realisieren. Breitz hatte vor, die Auschwitz-Überlebende und engagierte Antifaschistin Esther Bejarano, die 2021 in Hamburg gestorben war, mit einem größeren Konzert zu ehren. Deshalb wurde die öffentliche Bühne mit Kampnagel getauscht.

Es war das erste Engagement für die jüdische, aus Südafrika stammende Künstlerin im Auftrag einer deutschen Kulturinstitution, nachdem ihre Einzelausstellung 2023 nach drei Jahren Vorbereitung vom Saarlandmuseum in Saarbrücken in skandalöser Weise abgesagt worden war, weil sie die Palästinapolitik Israels hart kritisiert hatte. In ihren Briefen an Esther Bejarano imaginiert Breitz Träume, in denen sie mit Bejarano über deren bewegtes Leben spricht. Ein methodischer Kniff, sowohl das Leben der engagierten Antifaschistin auszubreiten, wie auch die Konflikte beider als kritische Jüdinnen im Täterland zu behandeln. Breitz nähert sich behutsam, poetisch und liebevoll der von ihr bewunderten Frau. Sie befasst sich seit 2023 in Performances, Texten und nun auch mit mehreren Videos mit der 1924 in Saarlouis geborenen Esther Loewy. Loewy hatte im Gegensatz zu ihren Eltern die Schoah in Auschwitz und Ravensbrück überlebt. Das Überleben in Auschwitz gelang ihr, weil sie im sogenannten Mädchenorchester das Akkordeon spielte. Mit jugendlicher Chuzpe hatte sie behauptet, das Instrument zu beherrschen, obwohl sie eigentlich Klavier gelernt hatte. Sie wurde gebeten, »Bel Ami« zu spielen, einen Schlager, der für eine Filmromanze mit Willi Forst während der Nazizeit von Theo Mackeben komponiert worden war.

Esther Loewy wanderte nach der Befreiung nach Palästina aus, wo sie ihren Mann, den Kommunisten Nissim Bejarano, kennenlernte, dessen Namen sie mit der Heirat annahm. Ihre beiden Kinder, Edna (1951) und Joram (1952) kamen noch in Israel zur Welt. Esther und Nissim waren in Israel mit Antikommunismus konfrontiert und mussten Benachteiligungen hinnehmen. Ihnen missfiel auch die Behandlung der Palästinenser in Israel, sie kehrten dem Land den Rücken und ließen sich 1960 in Hamburg nieder. In den 70er Jahren eröffnete Bejarano dort ihre Boutique »Sherazade«, wo sie unmittelbar vor ihrem Geschäft einen Naziaufmarsch erlebte und sich politisch gegen Faschismus zu engagieren begann. Sie wurde nicht nur Ehrenvorsitzende der VVN, sondern gründete auch das deutsche Auschwitz-Komitee und trat in den 80er Jahren bei »Künstler für den Frieden« auf. Bis zu ihrem Tod 2021 im Alter von 96 Jahren gab sie Konzerte mit der Microphone Mafia und sang politische Rap-Songs gegen Faschismus und Rassismus und begann als Triumph ihres Überlebens auch wieder »Bel Ami« zu singen. Mit Moshe Zuckermann und dem Schauspieler Rolf Becker, initiiert durch die Zeitschrift Melodie & Rhythmus, sprach sie mehrfach zum Thema »Wanderung zwischen den jüdischen Welten«. Alle drei, wie auch Candice Breitz und viele der an der Premiere ihrer Revue »A Song for Esther« beteiligten Künstlerinnen und Künstler engagieren sich nicht nur gegen Antisemitismus und Faschismus, sondern ähnlich wie Bejarano und Jahrzehnte zuvor Erich Fried, gegen die Okkupation und Vertreibung der Palästinenser. Jüdische Künstler wurden seitdem als Antisemiten oder selbsthassende Juden diffamiert. Dafür sorgt die israelische »Hasbara« ebenso wie die Antisemitismusbeauftragten. Basis ist die von der deutschen Regierung bemühte »Staatsräson«, immer an der Seite Israels zu stehen, was auch gegenüber den jüdischen Kritikern und Kritikerinnen reflexartig zu Antisemitismusbeschuldigung, Ausladungen und Gesinnungsüberprüfung führt und die Kunstfreiheit torpediert.

Esther Bejarano hatte sich bereits 2018 in einer Videobotschaft für die von Susann Witt-Stahl organisierte Konferenz »Zeit der Verleumder« in Berlin deutlich gegen solche falschen Anschuldigungen gewehrt: »Ich habe nicht das Vernichtungslager Auschwitz, das KZ Ravensbrück und den Todesmarsch überlebt, um jetzt von sogenannten Antideutschen und Konsorten als Antisemitin beschimpft zu werden.«

Auch Candice Breitz erfährt Diffamierungen. Es ist Joanna Warsza, Stadtkuratorin in Hamburg, und Amelie Deuflhard, Leiterin von Kampnagel, für ihre Courage zu danken, Candice Breitz mit dieser Revue beauftragt zu haben. 16 unterschiedliche Interpretationen von »Bel Ami«, jazzig, rockig, punkig, klassisch, fragmentiert und neu zusammengesetzt und auch mal mit neuen politisierten Versen ergänzt, bekam das Publikum durch Aeham Ahmad, Aufnahmen von Bejarano und Microphone Mafia, Chicks on Speed, Daniel Kahn, Dejan Jovanović und Oana Cӑtӑlina Chiṭu, Peaches, Lili Sommerfeld und viele andere Einzelkünstler und Ensembles zu hören.

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  • Leserbrief von Dr. Lothar Zieske aus Hamburg (9. Oktober 2025 um 18:02 Uhr)
    Ungeteilte Anerkennung verdient Candice Breitz’ Mut, Esther Bejaranos Haltung zu der israelischen Politik gegenüber den Palästinensern ungeschminkt darzustellen. Esther wurde von interessierter Seite gern als liebe alte Oma vereinnahmt. Verdienstvoll ist auch Candice Breitz’ Absicht, Esther mit einem Konzert zu ehren: Zum einen, weil Verdienste zu Lebzeiten nach dem Tode der betreffenden Person schnell verwelken, aber auch, weil Esther nicht nur mit Wort und Schrift, sondern auch und zwar vergleichbar stark mit dem Lied ihre große Wirkung erreichte. Einschränkend ist allerdings zu bemerken, dass Candice Breitz damit ein Gutteil Selbstdarstellung und Originalitätssucht (Adorno kommt in einem Traum hinzu) verbindet. Kritikwürdig erscheint mir vor allem aber die Sicht des Rezensenten, Esther habe in Auschwitz vor ihrer Aufnahme ins »Mädchenorchester«aus jugendlicher Chuzpe» behauptet, sie könne Akkordeon spielen, obwohl sie nur Klavier gelernt habe. Auf Einzelheiten soll nicht näher eingegangen werden, aber hier nur so viel: Esther konnte gar nichts behaupten, weil keine entsprechenden Fragen gestellt wurden. Sie konnte – nicht aus «Chuzpe», sondern aus der Mischung von Verzweiflung und Lebenswillen – den Versuch wagen. Ich war dabei, als sie 2018 im Rahmen der jährlichen November-Veranstaltung des Auschwitz-Komitees dieses Lied zum ersten Mal danach sang. Noch im Jahr davor hatte sie in in einem Sammelband («Mein Song. Texte zum Soundtrack des Lebens») betont: «Das Lied habe vom 'Bel Ami' habe ich seitdem nie mehr gespielt.» Damit ist der Ausnahmecharakter dieses Liedes genügend deutlich umschrieben. Dieses Lied in drei Stunden, in immer neuen Versionen, vortragen zu lassen, läuft nicht nur auf dessen Banalisierung hinaus: Aus einer Situation, in der es um Leben und Tod ging, wird ein «Thema mit Variationen».

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