Die Wahl des Zeitpunkts
Von Stefan Heidenreich
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung ist nicht gerade für ihre Zuneigung zu Sahra Wagenknecht bekannt. Um so mehr ließ ein Artikel aufhorchen, der dort am 3. September erschien. Zwei Professoren der Politikwissenschaft verstiegen sich zu der Behauptung »Der Wahlkrimi ist noch nicht aus«. Versteckt auf der Seite »Forschung und Lehre« forderten Eckhard Jesse und Uwe Wagschal die Neuauszählung der Bundestagswahl. »Nur rund 9.500 Stimmen fehlten dem Bündnis Sahra Wagenknecht zum Einzug in den Bundestag – und es gibt Indizien, die für ein anderes Ergebnis sprechen«, heißt es dort in der Unterüberschrift.
Wären die beiden Wissenschaftler bei einer rein juristischen Betrachtung geblieben, hätte man ihre Einlassung als einen Irrläufer aufrechter Demokratieverteidigung noch durchgehen lassen können. Aber dabei beließen sie es nicht. Sie rechneten im Detail vor, dass bei einer Neuauszählung höchstwahrscheinlich weit mehr als die nötigen gut 9.000 Stimmen zusammenkommen würden. Die statistischen Abweichungen bei den für ungültig erklärten Stimmen, besonders in grün oder links regierten Wahlbezirken, würden dies nahelegen. Allein diese These klingt schon fast wie der Vorwurf bewussten Wahlbetrugs.
Die Folgen der Neuauszählung wären dramatisch. »Würde das BSW nachträglich ins Parlament gelangen, käme dies einem politischen Erdbeben gleich. Schwarz-Rot wäre ohne Mehrheit«, schrieben die beiden Autoren am 29. September im Focus, der den beiden Autoren die Gelegenheit gegeben hatte, ihre Thesen dort noch einmal zu präsentieren.
Die Analyse der beiden Professoren hat mittlerweile die Runde gemacht, und zwar amüsanterweise besonders in Bayern. Die Augsburger Allgemeine hat berichtet, ebenso der Bayerische Rundfunk. Aus Freundschaft zum BSW wird das kaum geschehen sein. Warum dann? Aus Sorge um »das Vertrauen in den demokratischen Verfassungsstaat« (Jesse/Wagschal)? Oder gar aus Respekt vor dem Wählerwillen?
Nach einem Einzug des BSW in den Bundestag und dem damit verbundenen Ende der »schwarz-roten« Mehrheit gäbe es drei Möglichkeiten. Man könnte Neuwahlen ausrufen. Das aber drohte, die Demokratie weiter zu beschädigen. Schließlich würde man damit den Wählerwillen, kaum dass er endlich berücksichtigt wäre, sofort wieder abwürgen. Oder die CDU könnte die Grünen mit in die Koalition aufnehmen. Das wäre wohl das Letzte, mit dem der konservative Flügel der CDU sonderlich glücklich würde.
Bliebe die dritte Möglichkeit: die große Koalition der Rechten. Dazu müsste allerdings die sogenannte Brandmauer niedergerissen werden. Nur dann kann zusammenwachsen, was politisch ohnehin zusammengehört. Zumindest einer der beiden Autoren hat mit dieser Idee wohl kaum ein Problem. Mit der neuen Rechten hat Eckhard Jesse keine Berührungsängste, wie er als Redakteur der bis 2017 existierenden Zeitschrift Mut bereits unter Beweis gestellt hatte.
Für die große Koalition müsste sich die AfD lediglich noch ein wenig regierungstüchtig machen, indem sie die »Russlandfreunde« in den eigenen Reihen ruhigstellt. Wie es der Zufall will, hat sich Alice Weidel jüngst von Putin distanziert. »Irgendwo muss sich Putin auch irgendwann bewegen.« Damit sich irgendwann irgendwo auch in Deutschland etwas bewegt?
Aus Sicht des trump-atlantischen Flügels der Rechten würde die schwarz-blaue Regierung einige Vorteile bringen. Nur zusammen mit der AfD könnte man die Kettensäge anwerfen, um endlich den lästigen Sozialstaat zu stutzen. Was die Militarisierung und die unverbrüchliche Unterstützung der Terrorpolitik Netanjahus betrifft, ist man sich ohnehin einig. Und in der Flüchtlingspolitik hat man die Forderungen von rechtsaußen längst umgesetzt.
Dazu kommt, etwas in die Zukunft geschaut, noch ein mittelfristiges politisches Kalkül. Wie von dem eher linken Ökonomen Heiner Flassbeck unlängst angedacht, könnte ein wenig Mitregieren dazu beitragen, die AfD zu verbrennen. Allemal besser, als sie in vier Jahren als stärkste Partei in den Bundestag einziehen zu lassen.
Ob der Plan tatsächlich zur Ausführung kommt, wird sich daran zeigen, wer das Vorhaben der Neuauszählung sonst noch unterstützt. Bisher scheint in der Kommission, die darüber entscheiden soll, der feste Wille zu walten, sich nicht zu bewegen, um die Angelegenheit so lange wie nur möglich hinauszuzögern. Schließlich geht es um die Rettung der Demokratie vor dem Willen der Wähler.
Nun warten alle darauf, wer sich als nächstes aus der Deckung wagt. Hat man aus Bayern schon etwas Neues gehört oder hält die innige Freundschaft von Söder und Merz? Außerdem sind alle gespannt auf den Einsatz des Springer-Verlags. Ulf Poschardt hat die Kettensäge für die Abrechnung mit dem »Shitbürgertum« längst angeworfen. Mathias Döpfners Sohn Moritz hat sich als Peter Thiels Chief of Staff für die rechte Zukunft fit gemacht. Und Elon Musk durfte in der Welt schon einmal zur Wahl von Weidel aufrufen.
Die Wahl des Zeitpunkts muss gut bedacht sein. Schließlich will man möglichst wenig Wagenknecht und doch genug Zeit, um die AfD beim Regieren zu verbrennen. Es sei denn, die Chefetage an der Rudi-Dutschke-Straße hätte sich dafür entschieden, lieber abzuwarten, bis Weidel wirklich kanzlertüchtig wird.
Tageszeitung junge Welt am Kiosk
Die besonderen Berichterstattung der Tageszeitung junge Welt ist immer wieder interessant und von hohem Nutzwert für ihre Leserinnen und Leser. Eine gesicherte Verbreitung wollen wir so gut es geht gewährleisten: Digital, aber auch gedruckt. Deswegen liegt in vielen tausend Einzelhandelsgeschäften die Zeitung aus. Überzeugen Sie sich einmal von der Qualität der Printausgabe.
links & bündig gegen rechte Bünde
Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.
Ähnliche:
- dts Nachrichtenagentur/IMAGO25.09.2025
Wortgefechte um Verteilung
- Robert Michael/dpa12.09.2025
Ermittlerbesuch bei »Herrn Krah«
- Cord/imago22.08.2025
Geldspur in die Schweiz
Mehr aus: Feuilleton
-
Gruß von drüben
vom 08.10.2025 -
Rotlicht: Southeast Asia Treaty Organization (SEATO)
vom 08.10.2025 -
Nachschlag: Kranker Hahn Europas
vom 08.10.2025 -
Vorschlag
vom 08.10.2025 -
Veranstaltungen
vom 08.10.2025 -
Methodischer Kniff
vom 08.10.2025 -
Zuviel gebügelt
vom 08.10.2025 -
Der Fall Wagner
vom 08.10.2025