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Aus: Ausgabe vom 07.10.2025, Seite 7 / Ausland
Krieg gegen Gaza

Zwei Jahre Genozid

Propaganda statt Fakten: Der 7. Oktober als Israels Legitimation, den palästinensischen Gazastreifen zu zerstören
Von Ina Sembdner
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Tag für Tag Bomben und Zerstörung: Die Ruinen von Gaza-Stadt am Montag

Israels Premier Benjamin Netanjahu hat bei seiner Rede vor der UN-Generalversammlung am 26. September den Kurs vorgegeben: »Ein Großteil der Welt erinnert sich nicht mehr an den 7. Oktober« 2023, behauptete der ultrarechte Politiker und empfahl, den QR-Button an seinem Jackett aufzurufen, um das zu ändern. Während diese Einschätzung ohnehin kaum zutreffen dürfte, ist es wohl der nur wenige Stunden nach dem Überfall der Hamas, anderer bewaffneter palästinensischer Gruppen und von Zivilisten gestartete Vernichtungsfeldzug Israels gegen die palästinensische Enklave, der den Anlass dafür in den Hintergrund rücken ließ.

Nicht überraschend wiederholte Netanjahu, der sein politisches Überleben angesichts umfassender Korruptionsanschuldigungen im Krieg zu sichern sucht, Lügen über das, was vor zwei Jahren geschehen ist: »Sie haben Babys lebendig verbrannt. Sie haben Babys vor den Augen ihrer Eltern lebendig verbrannt. Was für Monster.« Ein Vorwurf, der unter anderem von dem investigativen Team I-Unit Al-Dschasiras nach Sichtung und Auswertung aller verfügbaren Daten widerlegt wurde. Statt Babys hätten sich zwölf Personen in dem betreffenden Haus im Kibbuz Beeri befunden, »die mit ziemlicher Sicherheit von israelischen Streitkräften getötet wurden, als diese das Gebäude stürmten«. Ein Hinweis darauf, dass noch immer unklar ist, wie viele Menschen unter den rund 800 zivilen Opfern vom eigenen Militär getötet wurden, unbenommen der Tatsache »weit verbreiteter Menschenrechtsverletzungen« durch die Angreifer, wie I-Unit ebenfalls festhielt.

Die Verantwortlichkeiten für das mutmaßliche Versagen der Einsatzkräfte, den Überfall aus dem weltweit am besten gesicherten und überwachten Gebiet zu verhindern, werden seither hin und her geschoben. Ranghohe Persönlichkeiten wie der frühere Generalstabschef Herzi Halewi traten zurück wegen des »Versagens« am 7. Oktober. Am Montag berichtete die Tageszeitung Haaretz, dass die Warnungen des inländischen Geheimdienstes Schin Bet über verdächtige Aktivitäten im Gazastreifen die Polizei erst vier Stunden später erreicht hätten – eine halbe Stunde, nachdem die Angriffswelle begonnen hatte. Eine dem Blatt vorliegende interne Untersuchung der Polizei kam zu dem Schluss, dass »eine Systemaktualisierung, die in der Nacht vor dem Angriff auf das verschlüsselte System zur Übertragung der Informationen des Schin Bet durchgeführt wurde, zu einer Verzögerung beim Empfang der Warnung geführt habe«.

Aber wie es der ebenfalls zurückgetretene Chef des Militärnachrichtendienstes, Aharon Haliwa, in mehreren vom israelischen Channel 12 veröffentlichten geleakten Audioaufnahmen erklärte: Der Überfall sei nicht aufgrund von Versäumnissen der Geheimdienste oder einer schlechten Reaktionszeit zustande gekommen, sondern er sei das Ergebnis von »etwas viel Tieferem«, »das sich über viele Jahre erstreckte und eine viel tiefgreifendere Korrektur erfordert«. Haliwa sprach in den von der Times of Israel am 16. August zitierten Auszügen auch vom Nutzen der Hamas für Israel und fragte, warum Netanjahu wolle, dass diese die Nachfolge der Palästinensischen Nationalbehörde (PA) antrete: »Weil die PA internationalen Status hat« und die Hamas eine Organisation sei, »gegen die man frei kämpfen kann«. Sie habe »keine internationale Rechtfertigung, sie hat keine Legitimität, man kann sie mit dem Schwert bekämpfen«. Ohnehin brauche die palästinensische Bevölkerung »von Zeit zu Zeit« eine Nakba – die Massenvertreibung und -tötung im Zuge der israelischen Staatsgründung 1948 –, »um dann den Preis zu spüren. In dieser unruhigen Gegend gibt es keine Wahl.«

Der jüngst auch von der UNO als Genozid eingeordnete Feldzug entspricht also dem Kalkül israelischer Strategen. Neben der offiziell registrierten Zahl von mindestens 67.160 Toten und 169.679 Verletzten – die Mehrheit davon Frauen, Minderjährige und Kinder – werden die 365 Quadratkilometer der Küstenenklave systematisch dem Erdboden gleichgemacht. Ein am Montag veröffentlichter Bericht des Palästinensischen Zentrums für Statistik zeigt, dass bis zum 8. Juli mehr als 100.000 Gebäude vollständig zerstört wurden, doppelt so viele wie im ersten Kriegsjahr. Die rund zwei Millionen Einwohner werden derweil auf immer engerem Raum konzentriert – 82 Prozent des Gazastreifens sind für sie Todeszonen.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Ulf G. aus Hannover (12. Oktober 2025 um 14:18 Uhr)
    Der Seite https://www.timesofisrael.com/former-idf-intel-chief-oct-7-was-much-deeper-than-an-intelligence-failure/ zufolge fragt Haliwa: »Who made the decision to differentiate between Gaza and the West Bank? The prime minister!« und die Times of Israel kommentiert das dann fehlerhaft: »placing blame on the rise of Hamas in Gaza on Prime Minister Benjamin Netanyahu«. Tatsächlich war es nicht Netanjahu, der 2006 den israelischen Abzug aus Gaza befahl, sondern Sharon. Und das damals gegen den Willen von Netanjahu. Und des weiteren ist es auch nicht Sharon gewesen, der der Hamas zu ihrem Wahlerfolg verholfen hatte, sondern das war der palästinensische Wähler. Eigentlich hätte Hamas in allen Palästinensergebieten herrschen müssen. Statt dessen hatte der Wahlverlierer PLO/Fatah im Gazastreifen einen Putchversuch unternommen, der gescheitert war. Allein in der Westbank konnte er sich rechtswidrig an der Macht halten. Nach dem fragwürdigen westlichem Demokratieverständnis ist Wahlgewinner eben nicht derjenige mit den meisten Stimmen, sondern derjenige mit dem westfreundlichsten Programm. Oft sind Militärs vernünftiger und klarsichtiger als Politiker. Haliwa scheint da eine Ausnahme zu sein, zumindest wenn die veröffentlichten Leaks ein korrektes Bild liefern, was natürlich fraglich ist. Sicher, Netanjahu hat Zahlungen aus Katar an die Hamas durchgehen lassen. Ist etwas weniger Armut wirklich so schlimm? Bleibt: Der Oslo-Prozess hatte gezeigt, dass auf friedlichem Weg kein Palästinenserstaat zu erreichen war; ähnlich war 1948 die UN-Teilungsresolution nicht friedlich umsetzbar, die USA hatten damals über ihr explizit den Stab gebrochen. Wo friedlich keine Lösung erreichbar ist, wird der Griff zur Gewalt natürlich nicht gleich rechtmäßig aber zumindest verständlich. Dieser Vorwurf trifft Zionisten 1948 genauso wie die Hamas 2023. Da hat niemand Grund, den Palästinensern mit dem erhobenen Zeigefinger die Gleichberechtigung zu verweigern.
  • Leserbrief von Volker Wirth aus Berlin (9. Oktober 2025 um 14:35 Uhr)
    Danke, dass ihr die Dinge beim Namen nennt! Netanjahu und mindestens etwa die Hälfte der jüdischen Bevölkerung Israels wollen »im Ergebnis des Terroristenüberfalls vom 7. Oktober 2023« den Gazastreifen bzw. seine zusammengepferchte arabische Bevölkerung »weghaben«. Das entspricht der international verwendeten Genozid-Definition! Ob
    durch Vertreibung ohne Wasser und Brot in die Wüste, wie bei den Hereros im heutigen Namibia durch die kaiserlich-deutsche »Schutztruppe« 1907 oder den Armeniern Südostanatoliens durch die Türkei 1915, oder durch industrielle Ausrottung der Juden Europas durch die deutschen Faschisten 1941-44, die physische Vernichtung von »unerwünschten« Menschen ist zwar das schlimmste, furchtbarste, doch nur das letzte, fünfte Genozid-Merkmal. Alle anderen treffen auf das Vorgehen Israels voll zu!
    Die Frage nach dem »Versagen« des israelischen Warnsystems wirft auch die jW auf. Sie ist der nach der offenbaren Schutzlosigkeit der US-Marinebasis Pearl Harbor am Tage des japanischen Angriffs, dem 6.12.1941, sehr verwandt – alle 4 US-Flugzeugträger aber waren damals nicht vor Ort! Zufall? So wie vor 2 Jahren die besten israelischen Truppeneinheiten vor Gaza fehlten! »Reichstagsbrand« und »Überfall auf den Sender Gleiwitz« oder auch der »Tonkingzwischenfall« waren Stümpereien im Vergleich zur bewussten Auslösung eines solchen »aufrüttelnden« Ereignisses mit klar aggressivem Vorgehen des Feindes. So dass »nun nichts weiter übrigbleibt als hart zurückzuschlagen«.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Ulf G. aus Hannover (9. Oktober 2025 um 11:01 Uhr)
    Dass Netanjahu wolle, dass die Hamas die Nachfolge der Palästinensischen Nationalbehörde antrete, halte ich für unwahrscheinlich. Google liefert für den Suchstring »16. August «Haliwa» site:www.timesofisrael.com« jedenfalls exakt Null Ergebnisse. Dabei dürfte es durchaus zutreffen, dass die Hamas für Netanjahu der angenehmere Gegner ist, weil sie sich auf eine militärische Auseinandersetzung einlässt, also auf einem Feld kämpft, wo Israel eindeutig der Stärkere ist. Die Palästinensische Autonomiebehörde kämpft dagegen auf dem diplomatischen Feld, und da sieht es für Israel schlechter aus, hatte die PA doch den Beobachterstatus bei der UNO und eine Mitgliedschaft im IStGH erweben können, wogegen es von israelischer Seite viel Kritik gab. Gänzlich aufgeschmissen ist Israel natürlich auf dem ethischen Gefechtsfeld. Einem anderen Volk einfach sein Land zu rauben und die Bevölkerung zu vertreiben, das geht nun mal nicht. Der Palästinakonflikt eskalierte bereits Winter 1947/48, unter anderem nachdem die USA sich vom 1947er UN-Teilungsplan zu distanzieren begannen: »the plan cannot now be implemented by peaceful means« teilte der US-Botschafter Austin am 19.3.1948 mit (http://passia.org/media/filer_public/3f/04/3f04c528-fa5c-40f2-b2be-8eb5cfc08ec7/cd_vol2.pdf). Das Massaker von Deir Yasin am 9.4.1948 setzte sodann umgehend und nachhaltig die Marschrichtung auf eine rein gewaltsame Implementierung des Staates Israel. Wie kann man von den Palästinensern nur erwarten, soetwas einfach hinzunehmen? Warum sollen sie auch jetzt die 100fache Rache Israels für den Überfall vom 7.10.2023 einfach hinnehmen? Wo Israel – zu Recht – nicht einmal die einfache Rache der Hamas vom 7.10.23 akzeptieren will?! Der Trump-Plan sieht u.a. einen interreligiösen Dialog vor. Als ob die Gewalt religiöse Ursachen hätte. Nötig ist vielmehr ein ethischer Diskurs über die Verjährung historischen Unrechts, und zwar ohne doppelte Standards..

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