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Aus: Ausgabe vom 11.09.2025, Seite 11 / Feuilleton
Kino

Ein Mann mit Visionen

Amanda Kims Dokfilm über den berühmten Videokünstler Nam June Paik
Von Wolfgang Nierlin
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»Ich mache keine Kunst, die Kunst macht mich« – Nam June Paik und der hassgeliebte Fernseher

Über einen Bildschirm huschen farbige, geschwungene Linien, die sich leicht und luftig wie ein Schmetterling bewegen und zu deren Rhythmus der koreanische Künstler Nam June Paik Laute von sich gibt, die wiederum in die Melodie des Liedes »Ich weiß nicht, was soll es bedeuten« übergehen. Das mit einem starken Magneten manipulierte und verfremdete Fernsehbild, dessen ursprüngliche Botschaft verwischt oder überzeichnet wird, versteht der »Vater der Videokunst« als demokratische Gegenrede zur Diktatur des Mediums. Aus der animierten abstrakten Graphik spricht zugleich eine eigenwillige visuelle Poesie. »Ich nutze Technologie, um sie richtig zu hassen«, sagt Nam June Paik. Seine Liebe zur »antitechnologischen Technologie« markiert eine Ambivalenz zwischen Tradition und Moderne, fernöstlicher Spiritualität und westlichem Fortschrittsglauben. Sie zieht sich durch ein Werk, das jenseits von Schönheit, Wahrheit und Perfektion vor allem der Suche nach Neuem auf der Spur ist. Nicht umsonst wurde der ruhelose Avantgardist auch als »Nostradamus des digitalen Zeitalters« apostrophiert, dessen künstlerische Visionen das Internet vorwegnahmen.

Um seine Abhängigkeit als Künstler vom Fortschritt technischer Innovationen auszudrücken, hat der Videopionier und autodidaktische Ingenieur einmal gesagt: »Ich mache keine Kunst. Die Kunst macht mich.« Seine vornehmste Aufgabe sah er zeitlebens entsprechend darin, über die Zukunft der Welt nachzudenken, wobei für ihn der Kommunikation eine Schlüsselrolle zukommt. In Amanda Kims materialreichem Dokumentarfilm »Nam June Paik: Moon is the oldest TV« heißt es gleich zu Beginn, der Porträtierte habe viele Sprachen gesprochen, die man aber nicht richtig verstehen konnte. Dabei werden die verschiedenen Zeitzeugen und Weggefährten, zu denen unter anderen John Cage, Mary Bauermeister, Charlotte Moorman oder auch Marina Abramović gehören, zu Talking heads arrangiert, die aus Monitoren sprechen. Während Paik in seiner Fluxus-Phase als enfant terrible bei diversen Performances gerne Instrumente und Fernseher zerstörte, werden vor allem letztere in seinem Spätwerk zu monumentalen Skulpturen symbolträchtiger Gleichzeitigkeit aufgetürmt.

Bei seiner Ankunft in München im Winter des Jahres 1956 versteht sich der 1932 in Seoul geborene Nam June Paik, der unter japanischer Besatzung aufwächst und schließlich vor seinem reichen Vater flieht, als Marxist und Revolutionär. Als begabter Pianist von der Zwölftonmusik Arnold Schönbergs fasziniert, will er zunächst Komponist werden und nimmt ein Musikstudium auf. Doch dann erlebt er 1958 ein Konzert von John Cage und David Tudor und wird dadurch »vollständig verändert«, ja zu »einem anderen Menschen«, wie er sagt. Die Überzeugung, dass die künstlerische Idee wichtiger ist als das fertige Kunstwerk, dass alle Töne gleich schön sind und vom Zufall organisiert werden können, führt den passionierten Avantgardisten schließlich zur »Aktionsmusik«. Dieses Projekt der Befreiung verbindet er später in New York mit technischen Experimenten, die neben Bildschirmen auch den Körper einbeziehen. Doch erst mit seinem ikonischen Werk »TV-Buddha« gelingt ihm 1974 der Durchbruch. Was dann folgt, sind künstlerische Visionen einer Zukunft (z. B. »Electronic Superhighway«), die heute real geworden sind und mit denen Nam June Paik zugleich davor warnt, die Geschichte angesichts einer stets ungewissen Zukunft zu vergessen.

»Nam June Paik: Moon is the oldest TV«, Regie: Amanda Kim, USA 2023, 117 Min., Kinostart: heute

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