Chemie auf dem Rückzug
Von Gerrit Hoekman
Der US-amerikanische Mineralölriese Exxon Mobil überlegt anscheinend, seine Raffinerien in Antwerpen und im schottischen Mossmorran zu verkaufen. Sollte sich der US-Konzern dafür entscheiden, folgte er einem sich abzeichnenden Trend: Erst im Juli hatte der US-Chemiegigant Dow die Schließung von drei Werken in Deutschland und Großbritannien angekündigt. Anfang des Jahres veräußerte der Chemiekonzern Lyondell-Basell bereits vier europäische Werke. Die saudiarabische SABIC erwägt ebenfalls den Abzug aus Europa.
Laut der britischen Financial Times soll der Verkauf der Fabriken in Europa Exxon Mobil bis zu eine Milliarde US-Dollar bringen (etwa 852 Millionen Euro). Finde sich kein Käufer, könnten die Anlagen auch einfach geschlossen werden. Gründe gibt es einige: Die von den USA verhängten 15-Prozent-Zölle auf Produkte aus Europa verhageln die Gewinnaussichten ebenso wie höhere Energiekosten durch EU-Regularien. Der Verzicht auf russisches Gas hat den Preis bereits hoch getrieben.
Exxon Mobil will zu den »Gerüchten und Spekulationen« ausdrücklich keine Stellung beziehen. Allein das sorgt in Antwerpen für Unruhe. Spreche der Ölkonzern über Europa und Belgien, »geht es nicht um Wachstum oder neue Pläne, sondern um Schrumpfung und Reduzierung der Präsenz«, stellte De Tijd am Donnerstag fest. An der Schelde, dem Fluss zum Seehafen von Antwerpen, liegt die große Raffinerie von Exxon Mobil, die das Unternehmen dort schon seit Jahrzehnten betreibt. In Belgien betreibt es zudem zwei Polyethylenfabriken, eine flussaufwärts in Zwijndrecht, die andere in Meerhout am Albertkanal, der Antwerpen mit der Maas und Liége verbindet.
Antwerpen ist nach Houston in Texas der zweitgrößte Chemiecluster auf der Welt. Die Pharmaindustrie mitgerechnet hängen etwa 35.000 Jobs direkt oder indirekt an dem Standort. Ein Verschwinden der Öl- und Chemiebranche würde »ein beispielloses sozioökonomisches Blutbad zur Folge haben, in Antwerpen, Flandern und Belgien«, entwarf die flämische Tageszeitung Het Laatste Nieuws schon im vergangenen Dezember ein düsteres Szenario. »Aktivitäten werden verlagert, Arbeitsplätze gehen verloren und Investitionspläne werden auf Eis gelegt«, bestätigt De Tijd. »Die Krise ist zu einer Art neuer Normalität geworden.« Auch BASF, das einen großen Standort in Antwerpen hat, kündigte im vergangenen Herbst eine globale »Reorganisation« an – ein Wort, das im schönfärbenden Managerschnack oft genug die Vernichtung von Arbeitsplätzen bedeutet.
Bei Exxon Mobil in Belgien stehen jedenfalls bis zu 2.000 Jobs auf dem Spiel. »Im Moment wissen wir nicht mehr als das, was wir in der Zeitung lesen, aber ich kann versichern, dass die Belegschaft besorgt in die Zukunft blickt«, sagte Levi Sollie von der sozialistischen Gewerkschaft ABVV am Freitag laut dem flämischen öffentlich-rechtlichen Radio 2. »Wir haben festgestellt, dass Exxon Mobil ähnliche Szenarien auch in anderen europäischen Ländern durchgespielt hat.« Die Folge: In Italien ist schon Schluss. In Frankreich wird es in diesem Jahr soweit sein. »Auch diese Pläne begannen als Gerüchte und führten schließlich zu einem Verkauf. In Frankreich beispielsweise hat dies zum Verlust von 700 Arbeitsplätzen geführt«, so der Gewerkschafter.
Europa steht in einem harten Wettbewerb mit Unternehmen aus den USA, China und dem Mittleren Osten, die billiger produzieren können, auch weil dort die Umweltstandards niedriger sind. Am Freitag kam aus Wien die nächste Hiobsbotschaft: Der halbstaatliche, österreichische Mineralölkonzern OMV will der Tageszeitung Kurier zufolge bis 2027 weltweit mindestens 2.000 Stellen abwickeln, rund 400 davon in Österreich. Bereits am Donnerstag musste das deutsche Chemieunternehmen Evonik wie die gesamte Branche mitteilen, dass seine Produktion auf ein 30-Jahres-Tief gefallen sei. »Europa muss jetzt schnell unsere Konkurrenzfähigkeit wieder herstellen«, hatte Ivan Pelgrims, der Geschäftsführer von Evonik Antwerpen, schon im vergangenen Dezember in Het Laatste Nieuws erklärt. Sonst, so Pelgrims, würden »viele Jobs verloren gehen«.
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