In 18 Tagen durch die Arktis
Von Burkhard Ilschner
Ende dieses Monats soll der knapp 300 Meter lange und 25 Jahre alte Containerfrachter »Istanbul Bridge«, der unter Liberia-Billigflagge fährt, vom nordostchinesischen Megahafen Quindao aus nach Nordwesteuropa aufbrechen. Diese Ankündigung ist derzeit Anlass für mehr oder weniger skurrile Schlagzeilen – die Rede ist von einem neuen Liniendienst zwischen Fernost und der Nordsee. Das wäre an sich keine Meldung wert, aber hier geht es um eine besonders schnelle Verbindung.
Normalerweise benötigen Containerschiffe von China nach Europa 30 bis 40 Tage, wenn sie via Suez fahren, und bis zu 15 Tage mehr bei Umschiffen Südafrikas. Die »Istanbul Bridge« indes soll nur 18 bis 20 Tage benötigen – und zwar auf der nördlichen Route durch die Beringstraße und das Nordpolarmeer über Norwegen bis in die südliche Nordsee. Geplante Anlaufhäfen sind das britische Felixstowe, das niederländische Rotterdam, dann Hamburg und das polnische Gdańsk.
»Arctic Express« soll der Liniendienst heißen; in diesem Jahr sei es die einzige Tour, aber ab 2026 soll die Verbindung regelmäßig befahren werden. Immerhin ist die »Istanbul Bridge« Reedereiangaben zufolge für die kommende Fahrt bereits ausgebucht, das Schiff mit einer Kapazität von 4.890 TEU (Twenty-foot Equivalent Unit; ein TEU entspricht der Ladekapazität eines Zwanzig-Fuß-Containers) bringe Elektronik und Konsumgüter für das hiesige Weihnachtsgeschäft. Allerdings hat das Schiff nur die niedrigste Eisklasse, das bedeutet ein gewisses Risiko – denn nur zwischen Anfang Juli und Ende November gilt die Region als ganz oder eingeschränkt schiffbar; und entlang der sibirischen Küste gibt es so gut wie keine Chance, im Havariefall bei eventuellem Eisgang schnelle Hilfe zu bekommen.
Soweit die unmittelbaren Fakten zu diesem Projekt – warum allerdings auch große Medien hierzulande so groß darauf »einsteigen« – so war etwa von einer »Rekordfahrt« die Rede –, erschließt sich nicht. Die Nutzung der Nordpolarroute ist alles andere als neu und hat wegen der Folgen des Klimawandels seither langsam, aber stetig an Attraktivität gewonnen.
Der russische Staatskonzern Rosatom, die wegen der zugehörigen Eisbrecherflotte zuständige Sicherheitsbehörde, meldete im Juni bereits knapp 200 Passageanträge und erwartete für die gesamte Saison rund 50 Prozent mehr Fahrten ausländischer Reedereien als zuvor. Laut Hansa soll die »Nördliche Seeroute« (NSR), wie Russland sie nennt, 2024 ein Rekordfrachtvolumen von 38 Millionen Tonnen erzielt haben. Und es wären sicher noch mehr, wenn nicht hohe Betriebskosten – zum Beispiel wegen erforderlicher Eisbrecherbegleitung – die Wirtschaftlichkeit trübten. Und dass China, wie vielfach gemutmaßt wurde, den neuen Dienst als Alternative zur riskanten Passage durchs Rote Meer anbiete, gehört auch eher ins Reich der Phantasie, denn die Konflikte Chinas mit den jemenitischen Ansarollah (»Huthi«) gelten als eher marginal.
Zum anderen lohnt – siehe Stichwort »skurril« – ein Blick auf das Schiff selbst: Die »Istanbul Bridge« gehörte anfangs dem deutschen Containerriesen Hapag-Lloyd, hieß erst »Kuala Lumpur Express«, dann »Oakland Express«. Seit 2020 hat sie wiederholt Eigentümer, Flagge und Namen gewechselt, hat etwa schon 2023 als »Flying Fish 1« mehrfach die Arktisroute passiert. Auch 2025 wird die geplante Premiere des Liniendienstes »Arctic Express« nicht ihre erste Eismeerfahrt sein: Das Schiff dürfte an diesem Montag vor Japans Küste mit Ziel Quindao unterwegs sein – es kommt nämlich aus der Beringstraße, weil es gerade Ende vorigen Monats St. Petersburg verlassen und vom Skagerrak aus eben die Nordroute eingeschlagen hat; alles in allem also nichts Ungewöhnliches.
Offen sind nur zwei Aspekte: einerseits die seerechtliche Kontrolle über die NSR. Russland streitet mit der UNO seit langem darum, bislang ergebnislos. Folglich ist unklar, was das für künftige internationale Verkehre bedeuten kann. Andererseits ist da die ökologische Frage: Jedes Schiff, das mit üblichem – meist wenig klimafreundlichem – Antrieb die NSR passiert, gefährdet die in dieser Hinsicht höchst empfindliche Arktisregion; und jede Veränderung dort hat bekanntlich auch hier spürbare Folgen.
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