Der erste NATO-Krieg
Von Rüdiger Göbel
Vor 30 Jahren führte die NATO ihren ersten Bombenkrieg. Drei Wochen währten die »Operation Deliberate Force« getauften Angriffe des westlichen Militärpakts im September 1995 in Bosnien-Herzegowina. Der NATO-Einsatz erfolgte offiziell, um Bedrohungen für die Mitglieder der »Blauhelm«-Truppen (Unprofor) und die Bewohner der UN-Schutzzonen durch die Armee der bosnischen Serben zu beenden bzw. zu verhindern. Die ehemalige jugoslawische Teilrepublik Bosnien-Herzegowina befand sich seit ihrer Sezession im Frühjahr 1992 im Bürgerkrieg. Die NATO-Intervention hat ihn beendet, so lautet die Legende.
Am 30. August 1995 startete der westliche Militärpakt mit 60 Kampfflugzeugen in mehreren Wellen Angriffe auf serbische Stellungen bei Sarajewo, Pale, Tuzla und Goražde. Ziel war es, die bosnisch-serbische Armee und Führung strategisch zu schwächen, indem ihre militärische Infra-struktur zerstört wurde: Radar- und Kommunikationssysteme, Fernmeldeeinrichtungen, Flugabwehrstellungen und Munitionslager. Oberbefehlshaber des Einsatzes war der US-Admiral Leighton W. Smith, Leiter der NATO-Truppen in Südeuropa. 222 Kampfflugzeuge warfen 1.026 Bomben auf 386 Ziele in der Republika Srpska, das von der bosnisch-serbischen Armee kontrollierte Gebiet des Balkanlandes. Bei Angriffen auf die Stadt Banja Luka kamen erstmals auch Marschflugkörper, Cruise Missiles vom Typ »Tomahawk«, zum Einsatz. Beteiligt am Krieg waren neben den USA Großbritannien, Frankreich, Italien, die Niederlande, Spanien, die Türkei und Deutschland.
Der NATO-Einsatz wurde nicht explizit durch eine UN-Resolution autorisiert. Die NATO berief sich auf vorausgegangene Resolutionen, mit denen der UN-Sicherheitsrat die Durchsetzung einer Flugverbotszone und den Schutz von UN-Sicherheitszonen unter Kapitel VII der UN-Charta genehmigt hatte. Diese Resolutionen erlaubten ausdrücklich den Einsatz »aller notwendigen Mittel« zur Durchsetzung dieser Maßnahmen – also auch militärische Gewalt. Daraus leitete die NATO eigenmächtig ihre Handlungsbefugnis ab – in Koordination mit den vor Ort präsenten »Blauhelm«-Truppen der Unprofor.
Nach serbischen Angaben waren bis zum 11. September alle wesentlichen serbischen Kommunikationseinrichtungen zerstört, darunter eine Relaisstation sowie alle Telefon-, Telex-, Radio- und Fernsehverbindungen zwischen ihren Zentren Pale, Bijeljina und Banja Luka. Auch die Sonderleitungen der politischen und militärischen Führungen funktionierten nach den NATO-Angriffen nicht mehr. Am 14. September beschloss der NATO-Rat, die Luftangriffe auf serbische Stellungen vorläufig für 72 Stunden auszusetzen, nachdem die bosnischen Serben erklärt hatten, ihre schweren Waffen prinzipiell von der Hauptstadt Sarajewo zurückzuziehen. Bis dahin hatten Kampfflugzeuge der NATO mehr als 3.100 Einsätze geflogen. Nach Bestätigung des serbischen Abzugs durch die UNO endete die NATO-Erzwingungsoperation »Deliberate Force« am 20. September 1995.
Die beteiligte Bundeswehr selbst flog keine Kampfeinsätze, unterstützte die NATO-Partner aber durch ein mit den Franzosen betriebenes Feldlazarett in Trogir an der kroatischen Küste sowie durch Aufklärungs- und Transportflüge. Beteiligt waren zwölf Transall-Maschinen und 14 »Tornados« der Luftwaffe. »Mehr wollte Kanzler Helmut Kohl der deutschen Öffentlichkeit nicht zumuten«, wie Die Welt am 28. August 2020 anlässlich des 25. Jahrestags konstatierte. »Verluste an Menschenleben gab es bei der NATO nicht, obwohl am ersten Tag des Einsatzes eine französische ›Mirage 2000‹ abgeschossen wurde. Die zwei Mann Besatzung gerieten in bosnisch-serbische Gefangenschaft, blieben aber ansonsten unverletzt und wurden Mitte Dezember 1995 freigelassen.« Die Zahl der getöteten bosnischen Serben wurde nie offiziell bekanntgegeben.
Ausweitung der Kämpfe
Entgegen den offiziellen Verlautbarungen haben die Luftangriffe der NATO auf bosnisch-serbische Ziele den Krieg in Bosnien-Herzegowina ausgeweitet. Truppenverbände der bosnischen Kroaten und Einheiten der kroatischen Armee gingen nun geeint gegen den serbischen Gegner vor, nachdem durch die NATO-Angriffe dessen militärische Infrastruktur und Logistik praktisch ausgeschaltet worden war. Wie schon bei vorausgegangenen Einsätzen wurden den Bodentruppen Daten aus der NATO-Luftüberwachung zur Verfügung gestellt.
Bei der Kriegführung im September 1995 kam die von der US-Armee 1981 entwickelte »Airland Battle«-Strategie zum Einsatz. Aus der Einsicht, dass ein Krieg durch Luftoperationen nicht zu gewinnen ist, wurde damals eine Doppelstrategie entwickelt, die vorsieht, durch Luftangriffe und strategische Waffen die Infrastruktur des Gegners im Hinterland zu zerschlagen, so dass Kommunikation und Nachschub an die Front verunmöglicht werden. Die vorstoßenden Bodentruppen treffen dann auf einen desorientierten Feind, der nicht mehr weiß, was im Hauptquartier geschieht, und keine Aussicht mehr auf Nachschub hat. Als Folgen wurden neben einem schnellen militärischen Erfolg des Angreifers vor allem Desorganisation und Konfusion bei den Angriffen prognostiziert.
Genau das war in Bosnien nach den NATO-Angriffen eingetreten: Fast ohne Widerstand stießen die kroatischen und bosnisch-muslimischen Truppen in Gebiete vor, die bis dahin als militärisch sicher für die bosnischen Serben galten. Das bestätigte eine der Zentralthesen der »Airland Battle«-Strategie: »Das Konzept betont eine allzuhäufig ignorierte oder falsch verstandene Lehre der Geschichte: Wenn Regierungen Streitkräfte zur Verfolgung militärischer Ziele einsetzen, müssen die Streitkräfte etwas gewinnen – sonst entsteht keine Grundlage, auf der Regierungen verhandeln können, um politisch zu gewinnen. Der Zweck militärischer Operationen kann deshalb nicht einfach im Verhindern einer Niederlage bestehen, sondern muss vielmehr darin liegen, zu gewinnen.«
Die in diesem NATO-Konzept formulierte Eroberungsstrategie konnte von den kroatischen und muslimischen Truppen erst nach der westlichen Militärintervention realisiert werden. Mit der Neuzeichnung der Fronten wurde die Grundlage für die nachfolgenden Verhandlungen in Dayton zur Beendigung des dreieinhalb Jahre währenden Bürgerkriegs in Bosnien gelegt.
Innerhalb weniger Tage gelang es den bosnisch-muslimischen Regierungstruppen im Verbund mit der kroatischen Armee, mehrere zehntausend Quadratkilometer Territorium sowie strategisch wichtige Städte wie Drvar, Jajce und Donji Vakuf zu erobern. Mehr als 120.000 Serben sahen sich zur Flucht gezwungen, während zuvor Hunderttausende Kroaten und Muslime vertrieben worden waren.
Trotz prinzipieller Einigungen über eine künftige Friedenslösung für das Land bei Verhandlungen in Genf und New York schlossen die lokalen Konfliktparteien erst am 5. Oktober 1995 einen Waffenstillstand, der sich ab dem 10. Oktober auf das gesamte Territorium der früheren jugoslawischen Teilrepublik erstrecken sollte. Mit zweitägiger Verzögerung begann der Waffenstillstand schließlich am 12. Oktober, nachdem in den Tagen davor vor allem an den Fronten im Nordwesten des Landes noch schwere Kämpfe zwischen den Kriegsparteien gemeldet worden waren, die darauf abzielten, die jeweiligen strategischen Positionen vor dem Beginn der Friedensverhandlungen, zu denen US-Präsident Bill Clinton eingeladen hatte, zu verbessern. Diese begannen am 1. November auf dem Luftwaffenstützpunkt Wright-Patterson bei Dayton in den USA. Anwesend bei den Gesprächen waren auch EU-Vermittler Carl Bildt sowie Vertreter der sogenannten Internationalen Kontaktgruppe, die von den USA, Russland, Frankreich, Großbritannien und der Bundesrepublik Deutschland gebildet wurde. Die serbische Delegation wurde von Präsident Slobodan Milošević angeführt, der als Vertreter der Bundesrepublik Jugoslawien von der bosnisch-serbischen Führung in Pale mit der Wahrnehmung ihrer Interessen betraut worden war. Die bosnisch-kroatische Delegation wurde vom kroatischen Präsidenten Franjo Tudjman angeführt. Die bosnischen Muslime wurden durch Alija Izetbegović vertreten.
Die Konferenz dauerte insgesamt drei Wochen. Das am 21. November auf dem US-Stützpunkt paraphierte und schließlich am 14. Dezember in Paris unterzeichnete Abkommen von Dayton beendete den Bürgerkrieg mit einer faktischen Teilung des Landes entlang ethnischer Kriterien, die bis heute andauert. Bosnien-Herzegowina setzt sich nunmehr aus den Entitäten Föderation Bosnien und Herzegowina mit muslimischen Bosniaken und katholischen Kroaten sowie der Republika Srpska zusammen, in der rund 90 Prozent orthodoxe Serben leben. Der Gesamtstaat ist mithin entlang ethnischer Zugehörigkeit strukturiert und sieht ein gemeinsames Präsidium mit wechselndem Vorsitz vor.
Jugoslawien in Jugoslawien
In Bosnien-Herzegowina lebten seit je drei der konstitutiven Staatsvölker Jugoslawiens – Muslime, Serben und Kroaten – zusammen, gemischt verteilt über das gesamte Gebiet. Nach der letzten Volkszählung vor dem Krieg stellten die Muslime 43,7 Prozent der insgesamt 4,36 Millionen Einwohner dieser jugoslawischen Teilrepublik, die Serben 31,4 Prozent und die Kroaten 17,3 Prozent. Fünfeinhalb Prozent erklärten sich als Jugoslawen.
Die politischen Entscheidungen des Westens, allen voran der bundesdeutschen Regierung unter Kanzler Helmut Kohl (CDU) und Außenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP), bezüglich der Anerkennung der ehemaligen jugoslawischen Republiken Slowenien und Kroatien als eigenständige, unabhängige Staaten zum Jahresende 1991 hatten Bosnien-Herzegowina in die Unabhängigkeit wider Willen gezwungen und sind mitursächlich für den darauf einsetzenden Bürgerkrieg. Warnende Anzeichen wie etwa der Boykott des Referendums über die Unabhängigkeit des Landes durch die bosnischen Serben oder die Proklamation zahlreicher »autonomer Gebiete«, die sich der Regierung in Sarajewo entzogen hatten, wurden im Westen ignoriert, und Bosnien-Herzegowina wurde am 6. April 1992, ausgerechnet am Jahrestag des deutschen Überfalls auf Jugoslawien im Zweiten Weltkrieg, anerkannt. Der absehbare Bürgerkrieg setzte unmittelbar danach ein.
Muslime, Serben und Kroaten versuchten fortan, mit militärischen Mitteln das zu erreichen, was in den Verhandlungen zuvor gescheitert war: die territoriale Scheidung von bosnischen Sezessionisten und jugoslawischen beziehungsweise serbischen Antisezessionisten zu manifestieren. Indem man die sogenannten historischen, innerrepublikanischen Grenzen des jugoslawischen Staates beibehielt, die nie »natürliche« Grenzen waren, und sie einfach zu neuen, völkerrechtsverbindlichen Staatsgrenzen erklärte, wurden durch die selektiven Anerkennungen (Slowenien, Kroatien, Bosnien-Herzegowina) und Nichtanerkennungen (Republik Serbische Krajina, Republika Srpska, Herceg-Bosna) neue Konflikte programmiert.
Besonders in den ersten Wochen und Monaten nach Kriegsausbruch, als es allen Seiten um die Gewinnung und Sicherung von möglichst viel zusammenhängendem Territorium ging, wurden zahlreiche Zivilisten zu Opfern von Massakern: in Kroatien bzw. der Krajina vor allem im Sommer und Herbst 1991, in Bosnien und der Herzegowina im Frühjahr und Sommer 1992. Entgegen der Berichterstattung und Stimmungsmache im Westen waren diese Opfer aber nicht nur Muslime und Kroaten, sondern – vor allem in Westslawonien, der Krajina und im zentralen Teil Bosniens – auch Serben. Hierzulande war der Eindruck erweckt worden, als sei eine externe Macht, die Serben, in Bosnien-Herzegowina einmarschiert und hätte innerhalb kürzester Zeit 70 Prozent des Landes okkupiert. Tatsächlich lebten Muslime, Kroaten und Serben vor Kriegsbeginn gemeinsam, vor allem aber auch gemischt, auf dem gesamten Gebiet des jugoslawischen Bosnien-Herzegowinas. Obwohl der serbische Anteil an der Gesamtbevölkerung bei nur 30 Prozent lag, lebten diese territorial gesehen auf rund zwei Dritteln des Landes, da sie in ihrer überwiegenden Mehrheit eher zur Landbevölkerung zählten, Muslime dagegen stärker in den Städten konzentriert waren. Während der Versuch der serbischen Seite, ihr Territorium zu verteidigen, als »aggressiver Akt« und »großserbischer Chauvinismus« bezeichnet wurde, galten die kroatischen und muslimischen Kriegsakte als »Verteidigung« oder »Befreiung besetzter Gebiete«.
Das offiziell vorgebrachte Argument des Westens für die Anerkennung Bosnien-Herzegowinas als eigenständiger Staat war, eine weitere Destabilisierung der Republik zu verhindern und deren territoriale Einheit zu unterstützen. Das aber erklärt nicht, warum dann nicht zuvor die Einheit Jugoslawiens unterstützt wurde. Denn die Mehrheit der gesamtjugoslawischen Bevölkerung trat nach wie vor für diese Option ein. Es gab immer nur in einzelnen Republiken ethnisch definierte Mehrheiten für eine Sezession, aber keine gesamtjugoslawische Abstimmung, wie es die Verfassung eigentlich vorsah. Der große Widerspruch der EU-europäischen und US-amerikanischen Politik bestand darin, die ehemalige jugoslawische Teilrepublik Bosnien-Herzegowina als multiethnischen Gesamtstaat gegen den Willen eines großen Teils der Bevölkerung – im Prinzip gegen den Willen der ethnischen Gruppe, die zudem zuvor den Status eines konstitutiven Staatsvolks hatte – erhalten bzw. schaffen zu wollen. Warum das Zusammenleben der verschiedenen Völker in dem ethnisch heterogenen Bosnien-Herzegowina besser funktionieren sollte als im multinationalen Bundesstaat Jugoslawien bleibt das große Geheimnis der westlichen Anerkennungspolitik.
Das vor allem von der deutschen Außenpolitik angeführte Diktum des »Selbstbestimmungsrechts der Völker« kam dort zum Tragen, wo es den eigenen Interessen dienlich war. Während das Selbstbestimmungsrecht der Kroaten oder der bosnischen Muslime anerkannt und mit der Unterstützung der Eigenstaatlichkeit verknüpft wurde, wurde dieses Recht für die serbische Seite negiert.
NATO als Schutzschild
Wie zuvor in Kroatien war ein weiterer Vermittlungsprozess durch die Anerkennung auch hier erschwert worden, da die bosnische Regierung unter Präsident Alija Izetbegović diese als Bekräftigung ihrer Sezessionsposition betrachten konnte. Die Politik von USA und EU-Europäern setzte weiter auf einen gesamtbosnischen Staat, der faktisch nie existiert hatte. Wie die Kroaten unter dem Nationalisten Tudjman in Zagreb, so hoffte auch die muslimische Führung in Sarajewo im Gefolge ihrer Anerkennung im April 1992 auf weitere westliche Unterstützung, vor allem aber auf eine militärische Intervention.
Diese sollte schließlich gut drei Jahre und Zehntausende Tote später kommen. Mit den intensiven Luftangriffen auf militärische und logistische Ziele der bosnischen Serben im September 1995 unternahm die NATO eine quantitativ wie qualitativ neue Form des Gewalteinsatzes im Bürgerkrieg. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte es insgesamt zehn Kampfeinsätze von NATO-Flugzeugen gegeben, die jeweils gegen Einzelziele gerichtet waren. Für die Kriegsparteien am Boden spielten diese Angriffe eine psychologische Rolle, militärisch waren sie jedoch eher von symbolischer Bedeutung. Im Unterschied dazu zielten die NATO-Bombardements ab dem 30. August 1995 auf eine Revision der militärischen Lage zuungunsten der bosnischen Serben, denen ohnehin die Alleinschuld am Krieg zugeschrieben wurde.
Die – über Wochen vorbereitete – »Operation Deliberate Force« wurde zunächst mit einem Angriff auf einen Marktplatz in Sarajewo begründet, dem sogenannten Markale-Massaker, bei dem am 28. August 37 Menschen getötet worden waren. Bereits am zweiten Tag der Bombardierungen hieß es aus UN-Kreisen, es ginge darum, die bosnischen Serben an den Verhandlungstisch zu zwingen. Dafür hatten diese jedoch schon vor Beginn der NATO-Intervention eine Verhandlungsdelegation gebildet. Am dritten Tag wurde die Forderung nach einseitigem Abzug der schweren Waffen aus der Umgebung von Sarajewo als ein weiteres Ziel genannt. Faktisch ging es um die Demilitarisierung der Serben mit anschließender ethnischer Homogenisierung der jeweils gehaltenen Gebiete.
Der in Dayton ausgehandelte Frieden war das Ergebnis der mehrere Jahre andauernden politischen, diplomatischen, ökonomischen und militärischen Intervention von NATO-Staaten. Diese vielfältige Intervention ist mit dafür verantwortlich, dass der Krieg auf dem früheren Gebiet der jugoslawischen Republik Bosnien-Herzegowina nicht bereits im Spätsommer 1992 endete. Zu diesem Zeitpunkt war die territoriale Scheidung Jugoslawiens auch dort vollzogen. In allen jugoslawischen Republiken war nun klar geworden, wo sich die antijugoslawischen Sezessionisten aus eigener Kraft durchzusetzen vermochten und wo nicht. Die Interventionen des Westens waren es, die es der kroatischen und muslimischen Führung erlaubten, den Krieg fortzusetzen, um dieses Ergebnis vom Spätsommer 1992 irgendwann doch noch zu revidieren. Zum Preis hoher Opfer vor allem in der Zivilbevölkerung konnten sie darauf zählen, dass der Westen mit seinen vielfältigen Interventionen ein Scheitern von Offensiven der kroatischen und muslimischen Verbände verhindern half und die Gegenoffensiven der bosnisch-serbischen Streitkräfte stoppte.
US-General Charles G. Boyd wies darauf in einer Analyse in der Zeitschrift Foreign Affairs hin, die im Herbst 1995 unter dem Titel »Making Peace with the Guilty. The Truth about Bosnia« erschien und dem gängigen antiserbischen Narrativ widersprach: »Im Rahmen dieser Kampagne haben die Muslime ohne Unterbrechung versucht, die UNO und die NATO (mittels der Sicherheits-, Flugverbots-, Ausschluss- und entmilitarisierten Zonen) als Schutzschilde einzusetzen, die es ihnen erlaubten, die eigenen Truppenkonzentrationen in den jeweiligen Gebieten zu reduzieren, um sie anderswo zu massieren. Den Schutz der durch den Abzug der eigenen Truppen geschwächten Gebiete überließen die Muslime der UNO.«
Ab Spätsommer 1992 wurden die westlichen Interventionen auf diplomatischem, wirtschaftlichem und militärischem Feld zu einem entscheidenden Faktor, nachdem die einseitige Anerkennung bereits die Lunte am Pulverfass gelegt hatte. Insofern stehen die »Operation Deliberate Force« sowie das Abkommen von Dayton und der darin paraphierte Frieden auch für mindestens drei Jahre sinnlosen Krieges, der rund 100.000 Todesopfer forderte, 40.000 davon Zivilisten. Die Parteinahme des Westens hat mitverhindert, dass bereits drei Jahre früher, auf dem Weg einer zwangsläufigen Deeskalation, ein faktischer Frieden zustande gekommen wäre. Es war damals allen Kriegsparteien klar, dass auf dem Schlachtfeld keine weiteren Gebiete für die kroatische und muslimische Sezession Bosnien-Herzegowinas erkämpft werden konnten. Erst die Bewaffnung der Muslime und Kroaten durch die USA, ihre militärische Ausbildung und die Bereitstellung geheimdienstlicher Informationen konnten sie auf eine Kriegswende zu ihren Gunsten hoffen lassen. Parallelen zum Ukraine-Krieg und den vom Westen torpedierten Istanbuler Friedensverhandlungen im Frühjahr 2022 bis hin zur Obstruktionspolitik heute sind augenscheinlich.
Die Hoffnung auf eine militärische Intervention des Westens für ihre Seite führte bei den bosnischen Muslimen und Kroaten dazu, in den vielfältigen Verhandlungen unentwegt an der Maximalposition eines einheitlichen bosnischen Staates festzuhalten und einer politisch wie militärisch längst Realität gewordenen Teilung des Landes unter den Konfliktparteien nicht zuzustimmen. Die serbische Seite wiederum konnte lange Zeit eine Blockadehaltung einnehmen im Glauben, dass die NATO (noch) nicht zu einer erheblichen militärischen Intervention bereit war. Mit der »Operation Deliberate Force« sollte sich dies ändern.
Aus dem NATO-Bombenkrieg wurde später das Konzept der sogenannten Schutzverantwortung (Responsibility to Protect) abgeleitet, mit der sich der westliche Militärpakt eine Daseinsberechtigung nach Ende des Kalten Krieges und der Auflösung der Sowjetunion samt Warschauer Vertragsorganisation zurechtlegte. Der NATO-Krieg gegen Jugoslawien 1999 schließlich war durch offenen Völkerrechtsbruch gekennzeichnet. In der Berliner Politikblase gilt gleichwohl der 24. Februar 2022 als das Datum, an dem der Krieg nach Europa zurückgekommen sei.
Faktisch Kolonie
In Bosnien sind – wie im Kosovo – bis heute Truppen der NATO stationiert, das Land steht faktisch unter einem Kolonialregime. Zur Überwachung des Dayton-Abkommens wurde eigens das Amt eines »Hohen Repräsentanten« geschaffen. Dieser wird von einem »Friedensimplementierungsrat« aus mehr als 50 Staaten ernannt. Seit vier Jahren übt der CSU-Politiker Christian Schmidt diese Funktion aus. Zuvor war er 2014 bis 2018 Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft. Der Hohe Repräsentant ist ermächtigt, Entscheidungen mit Gesetzeskraft zu erlassen, »wenn die lokalen Parteien nicht in der Lage oder nicht willens sind, zu handeln«. Und der Westrepräsentant kann bosnische Beamte feuern, von denen er meint, dass sie gegen rechtliche Verpflichtungen oder allgemein gegen das Dayton-Abkommen verstoßen. Milorad Dodik, Präsident der Republica Srpska und von der Zentralregierung in Sarajewo gleichzeitig mit Haftbefehl gesucht, sagte dazu unlängst in der Berliner Zeitung: »30 Jahre nach Dayton zeigt sich, dass Bosnien-Herzegowina ohne den Schutz durch das Ausland nicht funktioniert. Gleichzeitig wissen wir überhaupt nicht, wessen Protektorat wir hier eigentlich sind. Da kommen Leute, die keinerlei Befugnisse haben und uns Gesetze auferlegen. Leute, die man wie in alten Zeiten als Kolonialherren bezeichnen muss. Die wollen uns ihre Regeln aufzwingen. Überall woanders ist das längst Vergangenheit; nur hier gibt es das noch.«
Rüdiger Göbel schrieb an dieser Stelle zuletzt am 10. Juni 2024 über das Ende des Kosovokrieges: »Mut zur weißen Fahne
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Abschied vom Traumland
Während der Gespräche über eine politische Lösung in Genf diskutierten hochrangige kroatische Politiker unter vier Augen über Methoden, um ihren bevorstehenden Blitzkrieg zu rechtfertigen, darunter auch Angriffe unter falscher Flagge. Im Vertrauen auf die anhaltende Unterstützung ihrer westlichen Gönner, prahlten die kroatischen Vertreter trotz des Blutvergießens damit, dass sie ihre NATO-Unterstützer lediglich im Voraus über ihre Pläne informieren müssten. Die von der NATO geschürten ethnischen Spannungen in der Region schwelen noch immer und wurden als Rechtfertigung für eine dauerhafte Besatzung ausgenutzt. Aus Sicht der NATO diente die Militärkampagne als Modell für spätere Stellvertreterkriege und Militärschläge. Washington griff die Strategie, extremistische ausländische Kämpfer als Stoßtruppen einzusetzen, in einer Reihe von Kriegsschauplätzen auf, von Syrien bis zur Ukraine, so der Autor, der anführt, dass westliche Mächte, insbesondere Großbritannien, Deutschland und die USA, heimlich den Nationalismus in Jugoslawien förderten, in der Hoffnung, den Zerfall des multiethnischen Staates voranzutreiben. Ihr gewählter Vertreter in Kroatien, Franjo Tuđman, war ein fanatischer Ethnonationalist, überzeugter Holocaustleugner, katholischer Fundamentalist und ehemaliges Mitglied extremistischer Separatistengruppen. Tudman pries den »Unabhängigen Staat Kroatien«, eine von den Nazis geschaffene und von April 1941 bis Mai 1945 von einheimischen Kollaborateuren brutal geführte Marionettenregierung. Er bezeichnete das faschistische Konstrukt als »Ausdruck der historischen Bestrebungen des kroatischen Volkes«. Im Februar 1990 hatte er bei einer öffentlichen Versammlung in Cleveland, Ohio, für den Fall der Machtübernahme der UDC skizziert: »Unser grundlegendes Ziel ist die Abspaltung Kroatiens von Jugoslawien«, und hinzugefügt, »Sollten wir an die Macht kommen, dann ist es unerlässlich, innerhalb der ersten 48 Stunden, solange die Euphorie noch groß ist, mit allen Gegnern Kroatiens abzurechnen.« Viele von Tudjmans Anhängern schwärmten für die Ustascha, die Hardcorefaschisten, die während des Zweiten Weltkriegs den »Unabhängigen Staat Kroatien« regierten. Zu ihren Verbrechen gehörten unter anderem die Hinrichtung Hunderter Frauen und älterer Menschen durch Enthauptung und Ertränken.
1. »Kroaten« nennen sich die katholischen Einwohner Bosniens und der Herzegowina selbst, obwohl sie außer 1941–45 unter der faschistischen »Nezavisna Hrvatska Država« (NHD) nie Bürger Kroatiens waren. Richtigerweise werden die angeblichen »Bosniaken« dementsprechend nicht so, sondern als Muslime bezeichnet. Und auch die orthodoxen Einwohner von »BiH« sind nicht wirklich »Serben«, auch wenn sie sich selbst so nennen. Sie waren ja nie Bürger Serbiens! Im Grunde geht es also um einen eher kulturell-religiösen als »ethnischen« Konflikt, der vom Westen zur Zerstörung des multikonfessionellen bzw. atheistischen Staates Jugoslawien ausgenutzt wurde.
2. Der Anfang des Jugoslawienkrieges waren die Kämpfe der Jugoslawischen Volksarmee (JNA) gegen slowenische, kroatische und bosnisch-»muslimische« Separatisten bereits ab 1991 in Slowenien, in Kroatien, dann in muslimisch dominierten Städten Bosniens, dann im Osten und im zentralen Bergland Kroatiens, der früheren kroatisch-serbischen »Militärgrenze«. Oft waren das zunächst Kämpfe der JNA gegen örtliche Polizeieinheiten, die sich dem Kommando von Separatisten unterstellt hatten (so in bzw. bei Vukovar), welche die örtliche Staatsmacht übernommen hatten. Diese abgespaltenen Republiken hatten zunächst keine direkte militärische Unterstützung durch die USA bzw. NATO. Aber die Planungen kamen da schon in Gang.
3. Bereits die Niederwerfung der »Serbischen Republik Krajina« entlang der kroatisch-bosnischen Grenze im August 1995 war aber de facto schon ein NATO-Krieg, denn der Aufbau, die Ausrüstung und zuletzt auch Luftwaffenunterstützung der neuen kroatischen Streitkräfte durch die USA machten letztere zum starken örtlichen »Degen« des Westens. Serbien, die letzte »treue« Komponente der SFRJ, konnte das beschriebene »RTP«-Konzept nicht anwenden, eine Ausweitung des Krieges wäre die (dann 1999 beim Kosovo wohl nicht mehr zu vermeidende) Folge gewesen.
4. Nach der türkischen Eroberung Bosniens vor knapp 500 Jahren blieb v. a. die Landbevölkerung ihrem christlichen (orthodoxen bzw. katholischen) Glauben treu. Dementsprechend war die muslimische, v. a. städtische Bevölkerung immer eine »Minderheit im eigenen Land«. Auch gab es in der SFRJ und speziell in »BiH« viele »gemischte« Ehen bzw. Familien, daneben gaben auch Atheistinnen und Atheisten als nationale Zugehörigkeit oft »Jugoslawe« an. Unter diesen Bedingungen in BiH einen »islamischen Staat« zu propagieren, oder auch die Abspaltung des Südens, der Herzegowina, und deren Anschluss an Kroatien, musste auf Bürgerkrieg, Mord und Totschlag hinauslaufen. Was dann 1992–1995 auch passierte. Der angeblich doch »werteorientierte« Westen förderte dieses Blutvergießen nach Kräften.
5. In der JNA kämpften anfangs auch »nichtserbische« Anhänger der »jugoslawischen Idee« gegen (theoretisch) »ihre eigenen Landsleute«, so wie auch »nichtserbische« Offiziere in der JNA gegen übergelaufene »eigene Truppengefährten«. Aber ihr Kampf wurde dann immer mehr zu einer »serbischen Sache«! Die letzten 2 der 6 Republiken verabschiedeten sich dann sogar kampflos von Belgrad. Jugoslawien zerstört – »Mission accomplished«. Der siegreiche NATO-Luftkrieg 1999 widerlegte dann übrigens auch die Bündnis-Doktrin, ein Krieg müsse am Boden gewonnen werden, nur bedingt. Das serbische Volk jedenfalls wird diese Lektion nicht vergessen können.