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Aus: Ausgabe vom 16.08.2025, Seite 6 / Ausland
Brief aus Jerusalem

Völkermord als Olympiade

Brief aus Jerusalem. »Lexikon der Brutalität« widmet sich israelischem Sprachgebrauch zum Gazakrieg
Von Helga Baumgarten
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60.000 bis 70.000 Palästinenser strömen zu von der »Gaza Humanitarian Foundation« als Vergabestellen designierten Orten. Lautsprecher informieren: Wenn das grüne Licht aufleuchtet, bleiben zehn Minuten, um Nahrungsmittel wie Mehl, Zucker und Salz zu bekommen. Sobald das gelbe Licht aufleuchtet, sind es noch fünf Minuten. Wenn danach nicht alle geflohen seid, schießt die Armee wahllos auf jeden, der noch in der Gegend ist. Das nennt die Armee »Entfernungsschüsse«.

Adam Raz von Akevot, dem Institut für israelisch-palästinensische Konfliktforschung in Haifa, und der Soziologe Assaf Bondy haben unter Beteiligung von Mitgliedern der sozialistischen Gruppe Matzpen jüngst auf hebräisch ein Buch mit dem Titel »Lexikon der Brutalität. Schlüsselbegriffe aus dem Gazakrieg« herausgebracht. Eine Matzpen-Aktivistin übersetzt für mich die neuen barbarischen Begriffe ins Deutsche. Einige hat die Gruppe gesammelt, als das Buch bereits erschienen war, zum Beispiel »Olympiade«. Im Slang der Armee wird damit der Genozid in Gaza bezeichnet.

Raz betont, dass viele Begriffe und auch die ihnen zugrunde liegende Realität der israelischen Politik gegenüber den Palästinensern keineswegs neu sind. Ihr Ursprung, so argumentiert er auf der Basis seiner Forschungen etwa zum Massaker von Deir Jassin, ist das Jahr 1948. In den Dokumenten, die er aus den israelischen Archiven holen konnte, begann alles mit den damaligen Vertreibungen von Hunderttausenden von Palästinensern aus ihrer Heimat. Hunderte Dörfer wurden zerstört und dem Erdboden gleichgemacht. Die Gewalt war allumfassend. Äcker, Obstplantagen und Olivenhaine erhielten kein Wasser mehr und wurden ausgetrocknet. Jüdische Israelis durften das zurückgelassene Eigentum plündern.

Nicht umsonst beziehen sich israelische Politiker heute darauf. In einem Interview im israelischen Fernsehen wurde Landwirtschaftsminister Avi Dichter im November 2023 gefragt, ob die Bilder der fliehenden Palästinenser aus dem Norden Gazas nicht an 1948 erinnerten. Seine Antwort ließ keine Zweifel: »Wir sind dabei, eine zweite Nakba über die Palästinenser zu bringen. Die Gaza-Nakba. Die Gaza-Nakba 2023. So wird es enden.« Raz sieht aber einen klaren Unterschied zwischen 1948 und heute. 1948 gab es zumindest verhaltene Kritik am Vorgehen israelischer Bewaffneter und Soldaten. Man versuchte daher, vieles unter den Tisch zu kehren und aus dem öffentlichen Raum zu verbannen. Heute erklären Politiker laut und mit unverhüllter Prahlerei, was die Armee in Gaza »macht«. Bondy betont, wie brutal der Sprachgebrauch mittlerweile ist. »Es gibt keinerlei Scham mehr, keine Versuche, alles zu verheimlichen. Das ist das Einzigartige dieses Krieges: Vom ersten Moment an hat die israelische Führung offen, klar und deutlich gesagt, was sie vorhat – und eben das tut sie seitdem.«

Was etwa die Städte Lydda und Ramla anging, so stellten Politiker 1948 eine »freiwillige Auswanderung« als problemlos dar. Aber Vertreibung mit Gewalt, so hatten einige kritisiert, sei nicht akzeptabel. Heute werden die Menschen in Gaza auf brutalste Weise vertrieben, zuletzt – die Vertreibung ist noch im Gange – aus Gaza-Stadt. Man spricht von »freiwilliger Auswanderung« als der »humanitärsten Lösung« für die Menschen dort. Dennoch sind in der israelischen Gesellschaft nur sehr wenige Kritiker zu hören. Der Schriftsteller David Grossmann spricht in einem Interview mit der italienischen Zeitung La Repubblica inzwischen von Völkermord, wie auch die beiden Menschenrechtsorganisationen B’tselem und Ärzte für Menschenrechte – Israel. Die Regierung von Premier Benjamin Netanjahu schert das aber nicht.

Dass der für Sonntag geplante Generalstreik etwas ändern wird, ist eher unwahrscheinlich. Denn Netanjahu will sein Programm der vollständigen »Kontrolle« über Gaza durchziehen, sprich: den Völkermord fortsetzen. Europa redet derweil sehr viel – leere und letztlich folgenlose Worte.

Helga Baumgarten ist emeritierte Professorin für Politik der Universität Birzeit und schreibt an dieser Stelle wöchentlich ihre Kolumne »Brief aus Jerusalem«.

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