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Aus: Ausgabe vom 30.07.2025, Seite 7 / Ausland
Israel

Schmerzhafte Erkenntnis

Israelische NGOs sprechen zum ersten Mal von Völkermord in Gaza
Von Gerrit Hoekman
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Nur eine Minderheit: Palästinenser und Israelis demonstrieren gemeinsam für Gaza (Tel Aviv, 22.7.2025)

Die israelische Menschenrechtsorganisation B’Tselem hat schon mehrfach das brutale Vorgehen der israelischen Armee im Gazastreifen und in der Westbank angeprangert. Am Montag veröffentlichte sie ihren neuesten Report mit dem Titel »Our Genocide«. »Es ist kaum zu begreifen, aber seit fast zwei Jahren begeht Israel einen Völkermord an den Palästinensern im Gazastreifen«, heißt es in einer Stellungnahme dazu. »In unserem neuen Bericht präsentieren wir Fakten, Daten und Zeugenaussagen, die zeigen, wie Israel die palästinensische Gesellschaft im Gazastreifen systematisch zerstört, indem es katastrophale Lebensbedingungen schafft, die ein weiteres Leben unmöglich machen. Genau das ist die Definition von Völkermord«, stellt die NGO fest. Das Ziel von Regierung und Armee sei von Anfang an klar gewesen: »Gaza aushungern, auslöschen, dem Erdboden gleichmachen.«

Die israelische Sektion der »Ärzte für Menschenrechte« (PHRI) sprach am Montag ebenfalls von Völkermord, weil Israel systematisch das Gesundheitswesen zerstöre und absichtlich die Versorgung der Bevölkerung mit Strom, sauberem Wasser und Nahrungsmitteln verhindere. Das entspreche der völkerrechtlichen Definition eines Genozids. Es ist das erste Mal, dass israelische Organisationen das so deutlich sagen. Das Massaker mit rund 1.200 Toten, das die Hamas und ihre Verbündeten am 7. Oktober 2023 in Südisrael verübten, hat unbestreitbar bei den Israelis tiefe Existenzängste ausgelöst. Genau diese Gefühle würden von der Regierung für ihre »Agenda der jüdischen Vorherrschaft, Vernichtung und Vertreibung« ausgenutzt.

Die Schoah, die Ermordung von etwa sechs Millionen Juden während des Zweiten Weltkriegs durch die monströse Vernichtungsindustrie der deutschen Hitlerfaschisten, ist vielleicht der bekannteste Völkermord in der Menschheitsgeschichte. Nun schrieb Gideon Levy am Sonntag in einem Kommentar für die englische Ausgabe der israelischen Tageszeitung Haaretz: »Die Leugnung des Hungers in Gaza ist nicht weniger abscheulich als die Leugnung des Holocaust.« Seine provokanten Thesen sorgen in Israel immer wieder für Empörung. »Leugnung ist in Israel legitim und entspricht der dortigen politischen Korrektheit – es gibt keinen Hunger, und Beschreibungen von vorsätzlichem Verhungernlassen in Gaza sind eine antisemitische Verschwörung.« Verleugnung begleite Israel seit den Tagen der ersten Nakba 1948, die laut der israelischen Geschichtserzählung »nie stattfand und nur in der Phantasie von Israel-Hassern entstand. Sie setzte sich während all der Jahre der Besatzung und der Apartheid fort. Es gibt keine Gesellschaft auf der Welt, die in solcher Selbstverleugnung lebt (…).«

Der gesellschaftliche Diskurs in Israel ist in vollem Gange. »Als ein Volk, das Opfer des schrecklichen Holocaust in Europa war, haben wir auch eine besondere Verpflichtung, (…) um grausame und wahllose Gewalt gegen unschuldige Männer, Frauen und Kinder zu verhindern (…)«, zitierte Haaretz am Montag aus einem offenen Brief von fünf israelischen Hochschulrektoren. Bildungsminister Yoav Kisch unterstellte ihnen auf X, sich einer »orchestrierten Propagandakampagne der Hamas angeschlossen« zu haben. Die Regierung wolle Gazas Bevölkerung nicht aushungern, und die israelische Armee sei die moralischste der Welt.

»Jeder Völkermord wurde stets von den Tätern gerechtfertigt. Doch es gibt keine Rechtfertigung für Völkermord«, erklärt hingegen B’Tselem. Und die Ideologie der israelischen Regierung beschränke sich nicht nur auf den Gazastreifen, sondern werde auch im Westjordanland angewendet. »Es besteht zunehmende Besorgnis, dass sich der Völkermord auf andere Gebiete unter israelischer Kontrolle ausweiten könnte.«

»Nichts bereitet einen auf die Erkenntnis vor, Teil einer Gesellschaft zu sein, die Völkermord begeht. Dies ist ein zutiefst schmerzhafter Moment für uns«, zitierte die Jerusalem Post am Montag die Geschäftsführerin von B’Tselem, Yuli Novak. Die gesamte israelische Gesellschaft befinde sich in einer moralischen Krise. »Wir werden nicht sagen können: ›Wir wussten es nicht‹«, mahnt B’Tselem.

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