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Aus: Ausgabe vom 09.08.2025, Seite 6 / Ausland
Brief aus Jerusalem

Zurück in der Apartheid

Brief aus Jerusalem: Nach der Rückkehr aus Europa ist alles beim Alten – nur schlimmer. Bericht zeigt Ausmaß israelischer Kontrolle palästinensischen Lebens
Von Helga Baumgarten
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Hand in Hand: Das israelische Militär riegelt Hebron für radikale Siedler ab (3.8.2025)

Kaum bin ich in Jerusalem angekommen, gibt es Alarm: Aus dem Jemen wurde eine Rakete abgeschossen. Der Flughafen, an dem ich vor wenigen Stunden gelandet bin, wird kurzfristig geschlossen. Unsere Verwandten, die auf der anderen Seite der Mauer nördlich von Jerusalem (obwohl Teil der Stadt) leben, können mich nicht willkommen heißen: Sie würden stundenlang am »Grenzübergang« Kalandia festsitzen – länger als je zuvor.

Aber was hat sich in den vergangenen drei Monaten geändert?

Ein mehrstöckiges Haus in Suwane, an den Hängen des Ölbergs mit atemberaubendem Blick auf die Altstadt gelegen, soll abgerissen werden. Die Bewohner, 140 Menschen, sind überzeugt, dass der Grund des Abrisses mit dem ehemaligen Jerusalemer Mufti, Akrima Sabri, zu tun hat. Er lebte bis vor kurzem im Erdgeschoss. Sabri ist eine Provokation für die israelischen Ultrarechten, die er ständig und unerschrocken kritisiert, nicht zuletzt in seinen Predigten in der Al-Aksa-­Moschee.

Die gefährlichste Nachricht kommt vom Haram Al-Sharif, dem Tempelberg, wie er auf Deutsch genannt wird (mit ausschließlichem Bezug auf die jüdische Religion): Itamar Ben-Gvir, der israelische Minister für Sicherheit (ein vorbestrafter Rassist), betet dort offen und laut singend, begleitet von über tausend Gleichgesinnten und im Widerspruch zu allen geltenden Regeln. Die scheinen für ihn grundsätzlich nicht zu gelten.

Seit der israelischen Besatzung der Westbank inklusive Ostjerusalems hatte sich Israel verpflichtet, auf dem Haram den Status Quo zu erhalten. Der wird jedoch seit Jahren von religiös-nationalistischer Seite systematisch untergraben. Am extremistischsten geht dabei Ben-Gvir vor, mit einem klaren Ziel: Der Haram muss unter volle jüdisch-israelische Souveränität gestellt werden, damit der einst zerstörte jüdische Tempel neu aufgebaut werden kann.

Das Apartheidsystem in Jerusalem zeigt sich inzwischen im vollen Tageslicht. Freunde von mir müssen ihren Personalausweis erneuern. Es gibt aber keine Termine für die Büros des Innenministeriums in Ostjerusalem. Von ihrem Rechtsanwalt erfahren sie, dass Ostjerusalemer Bürger inzwischen auch in den Westteil der Stadt in die Büros des Ministeriums gehen können, um dort ihre Papiere zu erneuern, zu verlängern, neue zu beantragen. Sie berichten, dass sie innerhalb weniger Stunden einen Termin erhielten in der Siedlung Har Homa, südlich von Jerusalem, direkt oberhalb von Beit Sahur gelegen (und auf Land, das man von Beit Sahur enteignet hat, mit dem Namen Dschabal Abu Ghneim).

Nach einer kurzen Wartezeit werden sie zum Direktor des Büros gerufen: Der Ausweis sei schon vor über sieben Jahren beantragt worden. Aus diesem Grund könnten sie ihn nur in Ostjerusalem beantragen. Verzweifelt bitten sie den Offiziellen, ihnen einen Termin dort zu geben. Die lapidare Antwort: Das könne er nicht. Sie müssten den Termin selbst beantragen – ein Teufelskreis, in dem alle Ostjerusalemer Palästinenser stecken.

Am Dienstag mache ich mich auf die Fahrt an die Universität Birzeit, nördlich von Jerusalem gelegen. Ich nehme die schon vor Jahren neugebaute Siedlerumgehungsstraße Richtung Norden. Im Tal, direkt nach der Siedlung Ofra, biege ich links ab Richtung Birzeit.

Die Straße ist zweispurig und die Pläne von Finanzminister Bezalel Smotrich, wie Ben-Gvir ein extremistisch-rassistischer Siedlerkolonialist, sind klar: In der Westbank, die er annektieren will, sollen mindestens eine weitere Million jüdische Israelis siedeln. Für sie reicht eine zweispurige Straße nicht. Also muss die Straße vier- bis sechsspurig werden. Die Arbeiten sind in vollem Gange. Kilometerlang sind alle Arten von Baumaschinen wie Presslufthämmer, Planierrauben etc. zugange; die fast durchweg meterhohen Felswände müssen abgetragen werden, um Platz zu machen für die geplante Straßenverbreiterung. Das notwendige Land dafür verlieren die angrenzenden palästinensischen Dörfer, deren Zugang zur Straße hermetisch abgeriegelt ist – und das schon seit Jahren.

Siedlerkolonialismus, für dessen Vertreter Palästinenser keine Menschen mehr sind, in Aktion. Alles deutet in Richtung rücksichtsloser ethnischer »Säuberung« und, falls notwendig, unterschiedsloser tödlicher Gewalt, die schnell zum Völkermord werden kann, wie Gaza zeigt. All dies läuft offen und für jeden sichtbar ab. Die Regierung von Benjamin Netanjahu hat kein Problem damit.

Neues Ausmaß

Aber es gibt noch eine andere Dimension, die – zumindest bis Mittwoch – absolut im Verborgenen ablief. Die Einheit 8200 der israelischen Armee, eine Eliteeinheit zuständig für Cyberkriegführung, hat Überwachungsdaten über die besetzten palästinensischen Gebiete in der Westbank und im Gazastreifen gesammelt, die alles bis dato Vorstellbare in den Schatten stellen. Möglich wurde dies – so berichteten es der britische Guardian, das israelisch-palästinensische Magazin +972 und das hebräischsprachige Local Call nach ihren gemeinsamen Recherchen – durch ein Treffen in Seattle (USA) Ende 2021. Yossi Sariel, damals Chef der Einheit 8200, erhielt dort die Unterstützung von Microsoft und dessen CEO, Satya Nadella, um die zahllosen Daten, die der israelische Geheimdienst und die Einheit 8200 gesammelt hatten, speichern zu können. Die Speicherkapazitäten der Armee reichten dafür nicht aus. Deshalb erklärte sich Microsoft bereit, einen »maßgeschneiderten, abgetrennten Bereich« innerhalb seiner Cloud-Computing-Plattform »Azure« dafür zu entwickeln und der Armee zur Verfügung zu stellen.

Damit wurde es möglich – kaum fassbar –, »eine Million Telefonanrufe pro Stunde« abzuspeichern. Der Umfang ist unglaublich: 11.500 Terabytes von israelischen Armeedaten, das entspricht 200 Millionen Stunden Audioaufnahmen, sind bis Juli 2025 auf den Servern von Microsoft in den Niederlanden und zu einem kleineren Teil in Irland gespeichert worden.

Guardian, +972 und Local Call kommen zu dem Schluss, dass dies wohl »die weltweit größte und umfassendste Sammlung von Überwachungsdaten über eine einzige Bevölkerungsgruppe ist«. Die Informationen erhielten sie von anonymen Hinweisgebern innerhalb von Microsoft, von Quellen innerhalb des israelischen Geheimdienstes und aus internen Microsoft-Dokumenten, die in die Hände des Guardian gelangt waren.

Alle sind der Feind

Damit ist die Armee und insbesondere die Einheit 8200 in der Lage, Daten über jeden einzelnen Palästinenser in den besetzten Gebieten auf der Basis schlichter Telefonanrufe zu sammeln. George Orwells »1984« verblasst angesichts dieser Entwicklungen. Es geht hier nicht mehr nur um Überwachung »terroristischer« Gruppen. Es geht um einfache Menschen. »Plötzlich war die gesamte Gesellschaft unser Feind«, wie es ein Mitarbeiter des Projektes gegenüber den Journalisten formulierte. Damit wird auch verständlich, wie Kinder und Jugendliche in der Westbank und in Ostjerusalem »einfach so«, aus heiterem Himmel, erschossen werden. Das System hat sie wohl als »Risiko« eingestuft.

Am tödlichsten aber sind die Folgen im Gazastreifen im Kontext des Völkermordes. Dort waren es immer wieder zivile Ziele wie Krankenhäuser und Schulen, die attackiert wurden mit den verheerenden Folgen, die inzwischen weltweit bekannt sind.

Microsoft behauptet, wie könnte es anders sein und natürlich gegen jede vorliegende Beweislage, es hätte keine Kenntnis davon gehabt, dass sein System zur Überwachung benutzt oder gar zur Schädigung von Zivilisten eingesetzt worden sei.

Helga Baumgarten ist emeritierte Professorin für Politik der Universität Birzeit und schreibt an dieser Stelle wöchentlich ihre Kolumne »Brief aus Jerusalem«

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