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Aus: Ausgabe vom 31.07.2025, Seite 4 / Inland
Brandanschlag in Solingen

Gegen jede Evidenz

Solinger Feuermörder zu Höchststrafe verurteilt. Hinweise auf rechtes Tatmotiv ignoriert
Von Max Grigutsch
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Angehörige der Opfer des Solinger Brandanschlags forderten am Mittwoch Gerechtigkeit (Wuppertal)

Ein rassistisches Gedicht als Wanddekoration. 166 Hitlerbilder und »Memes« über Migranten. Nazibücher, die dem Vater zugeschrieben wurden. Suchanfragen nach rassistischen Inhalten im Browserverlauf. Im Umfeld: Neonazis und Identitäre. Auf den Ohren: »Schlager aus dem ›Dritten Reich‹«. Der Solinger Daniel S. wurde am Mittwoch vom Landgericht Wuppertal zu lebenslanger Haft verurteilt. Die besondere Schwere seiner Schuld wurde festgestellt, eine Sicherungsverwahrung angeordnet. Der 40jährige hatte gestanden, in der Nacht zum 25. März 2024 ein Haus in Solingen-Höhscheid in Brand gesetzt, dabei eine vierköpfige bulgarisch-türkische Familie mit zwei Kleinkindern getötet und 21 Menschen verletzt zu haben. S. wurden außerdem weitere Brandstiftungen und eine Machetenattacke zur Last gelegt. In der Sache eines Brandanschlags auf das Wohnhaus eines Marokkaners in Wuppertal wird gesondert ermittelt.

Den Überlebenden und Hinterbliebenen sprach das Gericht zwischen 2.000 und 20.000 Euro zu. Ein rechtes Tatmotiv wurde allerdings trotz erdrückender Indizien nicht ausreichend erörtert, bemängeln nicht nur Betroffenenvertreter. Im Urteilsspruch habe Richter Jochen Kötter Rassismus nicht als mögliche Motivation erwähnt, teilte Jan-Robert Hildebrand von der Opferberatung Rheinland jW am Mittwoch mit. Der Staatsanwalt Christopher Bona sprach seinerseits von »Spekulationen ohne echten Beweiswert«, die Strafverteidiger sahen ihren Mandanten diesbezüglich als eher entlastet an. Anders die Nebenklagevertreterin Seda Başay-Yıldız: »Alles, was rechts sein könnte, wird kleingeredet«, resümierte sie am Mittwoch den Prozessverlauf.

Die schiere Menge der Anzeichen für ein rechtes Motiv lässt sich kaum auf knappem Raum nachzeichnen. Am vergangenen Freitag hatte eine Nachbarin des nun Verurteilten ausgesagt, der Bruder von S. sei »ein Nazi«, ein weiterer Kontakt Teil der identitären Szene, wie ND berichtete. S. soll zur Zeugin einmal gesagt haben, im Wuppertaler Stadtteil Oberbarmen könne man wegen der Ausländer nicht mehr über die Straße gehen. Die besagten »Schlager aus dem ›Dritten Reich‹«? Die hätten früher geholfen und würden auch heute wieder helfen, habe er gesagt.

Auf derartige Hinweise ließ sich der Staatsanwalt nicht ein, konnte er sich doch auf das Gutachten des Psychiaters Pedro Faustmann stützen, um die Tat zu individualisieren. Der teilte dem Gericht am Freitag mit, dass die Taten von S. einer »Selbststabilisierung durch Abwertung anderer« dienten. Deswegen habe er sich mit Bildern von SS-Soldaten identifiziert und marginalisierte Gruppen herabgewürdigt. Der dadurch im Grunde bestätigte Bezug zum Nazismus sei, anders als die psychologische Verfassung von S., nicht tatanleitend gewesen. Eine merkwürdige Argumentation, aber eine, der sich Staatsanwalt Bona am Montag anschloss. »Der Staatsanwalt verwendet gut die Hälfte seines Plädoyers darauf, auch nur den Verdacht eines rassistischen Tatmotivs als ›vorurteilsgeleitet‹ zu kritisieren«, beanstandete die Opferberatung Rheinland am Dienstag.

Laut Aussagen nicht nur der erwähnten Zeugin gebe es »diverse Menschen mit rechter Gesinnung und Bezug zu rechten Strukturen im Umfeld des Täters«, erklärten Prozessbeobachter des Autonomen Zentrums Wuppertal am Mittwoch gegenüber jW. Aber ein »rassistisches Motiv des Mörders Daniel S. wurde von Anfang an von Polizei und Staatsanwaltschaft ausgeschlossen«. Erst Anfang April 2025, nach Recherchen von Başay-Yıldız, kamen die eingangs genannten Vorwürfe ans Licht. Die Anwältin warf der Polizei vor, rechte Spuren verwischt zu haben, und stellte Strafanzeige. Die Staatsanwaltschaft lehnte die Aufnahme von Ermittlungen ab. Im Mai tauchte dann ein Vermerk auf, demzufolge der Anschlag bereits im April 2024 als »rechts« eingestuft worden war. Ein Beamter soll das im nachhinein handschriftlich geändert und so die Aufnahme in den Prozess verhindert haben.

»Sehr unzufrieden und desillusioniert« seien die Angehörigen nach dem Prozess, betonte Hildebrand gegenüber jW. Vom Auftritt der Staatsanwaltschaft seien sie zudem »persönlich sehr gekränkt«. Ein Betroffener sagte dem Opferberater sinngemäß, er verstehe nicht, warum der Staatsanwalt die Aufgaben der Verteidigung übernimmt. Hinterbliebene, die trotz allem zur Urteilsverkündung angereist waren, fordern wohl auch weiterhin »adalet« – Gerechtigkeit.

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