Rotlicht: Sommerloch
Von Marc Püschel
Unsinnigste Tierstory des Jahres? Mit den Welsangriffen im Brombachsee Ende Juni scheint das Thema abgehakt zu sein. Doch vergleichbare Geschichte kehren immer wieder und werden regelmäßig im Sommer aufgegriffen – man denke nur an den »Problembär« Bruno, der 2006 über die Alpen gewandert kam. Es hat sich eingebürgert, die relativ ereignislose Zeit im Juli und August, in der Medien ihre Spalten und Sendeminuten mit solchen Quatschgeschichten füllen müssen, als »Sommerloch« zu bezeichnen. Verursacht wird es vor allem durch die Parlamentsferien und die allgemeine Urlaubszeit. Die Sache ist daher neueren Ursprungs und ein selbstgemachtes »Problem«.
Noch bis Anfang des 19. Jahrhunderts gab es kein Sommerloch – ausgenommen eine gleichnamige Gemeinde in der unmittelbaren Nähe von Bad Kreuznach, wo Karl Marx übrigens auch den Sommer 1843 damit füllte, seine »Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie« zu schreiben. Doch das Konzept eines medialen Sommerlochs bestand damals noch nicht. Ganz im Gegenteil war vor allem der Winter eine besonders ereignislose Zeit. Der Alltag der zum größten Teil bäuerlichen Bevölkerung wurde noch von der Natur dominiert: Im Frühling war man mit Aussaat, im Herbst mit der Ernte beschäftigt, der Winter war dagegen eine Zeit des Rückzugs ins Häusliche, so dass man eher von einem »Winterloch« sprechen kann. Der Sommer war vor 1800 tatsächlich die ereignisreichste Zeit, da die meisten Kriege in dieser Jahreszeit geführt wurden und im Winter ruhten. Entsprechend viel gab es von Juni bis September zu berichten.
Nur langsam kam auch die winterliche Kriegführung in Mode, nachdem in einem spektakulären Coup George Washington im US-amerikanischen Unabhängigkeitskrieg an den Weihnachtstagen des Jahres 1776 über den vereisten Delaware River übergesetzt und die Briten damit völlig überrumpelt hatte. Im 19. Jahrhundert fand, dank zahlreicher technischer Neuerungen, eine zunehmende Emanzipation von dem natürlichen Jahresrhythmus statt. Zudem entwickelte sich der Parlamentarismus und die moderne bürgerliche Öffentlichkeit. In Großbritannien, wo beides am weitesten entwickelt war, kam daher in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Begriff der »Silly season« (alberne Saison) auf, der auf die nachlassende Qualität britischer Tageszeitungsartikel gemünzt war.
Der Begriff des Sommerlochs bezieht sich auf dasselbe Phänomen, ist aber ein spezifisch deutscher. Vergleichbare Ausdrücke gibt es jedoch in fast allen europäischen Sprachen. Im Französischen spricht man etwa von »La morte-saison« (die tote Saison), im englischsprachigen Raum weiterhin von »silly season« oder auch von »Cucumber season«. Letzteres ist als »Sauregurkenzeit« auch im Deutschen ein Synonym für das Sommerloch. Auch dieser Ausdruck hat seine Ursprünge im 19. Jahrhundert, bezieht sich allerdings nicht auf tatsächliche Gurken, sondern entstammt dem Rotwelschen und meint eine Zeit dürftiger Einnahmen und schlechter Geschäfte.
Angesichts leerer Terminkalender hält sich das Phänomen bis heute und ist gut belegt. 2006 untersuchte Christian Pohl in einer Diplomarbeit die Lokalberichterstattung von Tageszeitungen und konnte nachweisen, dass sich nicht nur die Themen, sondern auch die Darstellungstechniken im Sommer deutlich ändern. Der Stil wird feuilletonistischer, experimenteller. Für viele sogenannte »Hinterbänkler« unter den Politikern ist das Sommerloch außerdem auch eine gute Gelegenheit, mit irren Thesen für Aufmerksamkeit zu sorgen. So schlug im Sommer 1993 ein CSU-Politiker vor, für 50 Milliarden D-Mark Mallorca zu kaufen und als 17. Bundesland der BRD einzugliedern. Der (vermutlich) als Witz gemeinte Vorschlag wurde von Medien wie Bild aufgegriffen und so kurz zu einem Aufreger.
Angesichts einer globalisierten Nachrichtenwelt und der Zunahme extremer Wetterereignisse auf der Nordhalbkugel relativiert sich das Sommerloch mittlerweile – irgendwas ist immer. Nur die Tiergeschichten, die werden wohl bleiben.
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