Stark, unabhängig, eigensinnig
Von Irmtraud Gutschke
Bei einigen PEN-Tagungen habe ich sie erlebt und nicht ans Unwiederbringliche gedacht. Nie mehr werde ich ihr persönlich begegnen. Am 25. Juli ist Doris Gercke in Hamburg gestorben. Und weil gerade Schulferien sind, fällt mir ein Kinderbuch ein, das auch in dieser Sommerzeit spielt. »Versteckt«: Zwei Jungs, David und Jonnie, dürfen sich bei ihrer Großmutter (da denkt man an die Autorin) ganz frei und geborgen wähnen. Doch plötzlich fühlen sie sich ausgeliefert. Ins Haus ist jemand eingebrochen, und diverse Dinge wurden gestohlen. Dieser Jemand wird im Wald entdeckt: ein Junge aus Polen. Muss man ihn der Polizei ausliefern? Dass keiner im Buch auf die Idee kommt, ist bemerkenswert. Was ist der Unterschied zwischen dem allgemeinen und dem eigenen Gesetz? Und dann tauchen doch noch echte Verbrecher auf, zwei Männer, vor denen Krysztoff geflohen ist …
Doris Gerckes Genre war der Krimi. Aber bis dahin war es ein langer Weg. 1937 in einer Greifswalder Arbeiterfamilie geboren, nahmen die Eltern die Zwölfjährige mit, als sie 1949 in den Westen gingen. Das sei für sie »tragisch« gewesen, bekannte sie später. »Aber heute denke ich, dass es der Grund dafür war, dass ich schreibe.« In ihrer Schule in einem vornehmen Stadtteil Hamburgs habe sie begriffen, »dass ich Prolet bin. Im Osten konnte ich kein Klassenbewusstsein entwickeln, aber im Westen waren die Grenzen klar gezogen.« Von einem Studium konnte keine Rede sein. Bei drei Kindern hatte es gerade mal fürs Schulgeld gereicht. Sie machte eine Ausbildung in der Schulbehörde, lernte ihren Mann kennen, bekam zwei Kinder und litt schrecklich unter der intellektuellen Unterforderung.
Erst mit 40 holte sie das Abitur nach, wie sie Barbara Kaiser in einem ND-Gespräch erzählte, und studierte danach noch Jura. Dazu kam 1986/87 ein Jahr an der »Leninschule« in Moskau, »weil die Partei, der ich damals angehörte, keine Juristen, sondern Berufsrevolutionäre wollte«. Zu einer Zeit, als sich Gorbatschow mit Glasnost und Perestroika abmühte.
Es war in den Semesterferien 1987, als sie zu schreiben begann. So spät! Heute will man es angesichts ihrer literarischen Produktivität kaum glauben.
Obgleich sie schon eine Menge Erfahrungen hatte, sollte es keinesfalls Selbsterfahrungsliteratur sein. Sondern Krimis! Eine erschütternde Geschichte, die ihr ein Polizist erzählte, hatte sie auf die Idee gebracht. Krimis, die Frauen zu ihrem Recht verhelfen, aber keinesfalls so trivial sein sollten, wie es die sogenannte Frauenliteratur häufig ist. Dass die Buchleser zu 80 Prozent weiblich sind, hat sie ermutigt. Und dass sie sich mit ihren Ermittlerinnen auch selbst bestärkt fühlen konnte, hat ihr Freude gemacht.
Zuerst denkt man bei ihr natürlich an Bella Block, die in einer ganzen Krimireihe – zuerst im Verlag am Galgenberg, dann bei Hoffmann und Campe und bei Ullstein – im Mittelpunkt stand. Darüber sollte man aber nicht vergessen, dass es noch weitere Krimis mit anderen Ermittlerinnen gab. Da fällt mir Milena Proháska ein, aber auch die junge Anwältin Lisa, die in Gerckes Roman »Pasewalk« ermittelt. Denn Lisas Großmutter sitzt wegen Mordes im Gefängnis und schickt die Enkelin in diese Kleinstadt in Mecklenburg-Vorpommern, damit sie die Tat versteht. Eine deutsche Geschichte von Verbrechen, Sühne und Versöhnung wird erzählt, die in die Vergangenheit zurückgeht und in die Gegenwart weist.
Was Bella Block betrifft, da mache man sich nichts vor: Für ein breites Publikum hat sie durch die rothaarige Hannelore Hoger ein Gesicht bekommen. Von 1994 bis 2018 wurden 38 Folgen vom ZDF ausgestrahlt. Wobei nicht alles in der Filmreihe von Doris Gercke stammt. Auch andere Autoren haben mitgewirkt.
Sie wusste, wie man Krimis schreibt. Aber zur raffinierten Machart kam bei ihr eine Gesinnung, die sie wohl schon von Kindheit an hatte: gesellschaftliche Ungerechtigkeit und Kriegstreiberei abzulehnen, die Gefahr von Neofaschismus zu erkennen und für Völkerverständigung, auch Russland betreffend, einzutreten. Bella Block soll schließlich mit dem berühmten russischen Dichter Alexander Blok in verwandtschaftlicher Beziehung stehen.
Krimis hielt sie für das geeignetste Genre, um gesellschaftliche Verhältnisse vor Augen zu führen. Kurz vor ihrem Tod entschied sie mit der Verlegerin des Argument-Verlages, dass dort aus ihren teils noch handschriftlichen Texten (Prosa und Lyrik) ein letztes Buch entstehen soll.
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