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Aus: Ausgabe vom 19.07.2025, Seite 10 / Feuilleton
Film

Symptome lesen

Klandestine Blicke, stumme Gesten: Abdenour Zahzahs filmische Mikrostudie rekonstruiert Frantz Fanons Kampf gegen die kolonialen Machtverhältnisse in der algerischen Psychiatrie
Von Barbara Eder
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»Wir müssen die Fenster öffnen, statt die Türen zu schließen« (Filmszene)

Eine Frau vor einem verschlossenen Eisentor, den Kopf zwischen die Knie gepresst, den Oberkörper wiegend in stummem Protest. Unerwartet springt sie auf und wirft sich mit voller Wucht gegen die Barriere – als könnte sie den Weg ins Freie erzwingen. Zwei Männer in weißen Kitteln greifen ein, fixieren ihren Körper, der sich immer noch gegen alles stemmt. Was folgt, sind Elektroschocks in abgeschirmten Räumen – ein nahezu mechanischer Reflex der französischen Anstaltsärzte im Dienst der Ordnung der Klinik.

Als der Psychiater Frantz Fanon 1953 die Stelle als Chefarzt im algerischen Blida antritt, gehören Szenen wie diese zum psychiatrischen Alltag. Der kolonialen Segregation gemäß gibt es einen Trakt für französische und einen für muslimische Patienten – mit fundamental verschiedenen Diagnosekategorien und Behandlungsmethoden. Die Kolonialisierten, an Armen und Beinen gefesselt, hören Stimmen und sehen Phantome; jene, die auf diese Weise zu ihnen sprechen, sind keine Hirngespinste, sondern Menschen von nebenan: Ärzte, Pfleger und Kolonialbeamte, nur einen Trakt entfernt. Frantz Fanon ist davon überzeugt, dass es dieses Krankenhaus ist, das krank macht. »Heilung« wäre nur dann möglich, wenn die koloniale Realität selbst ins Zentrum der Behandlung rückt.

Cléopâtre (Amal Kateb), die eigentlich Juliette heißt, ist eine der ersten Patientinnen, denen Frantz Fanon (Alexandre Desane) in Abdenour Zahzahs dezent in Schwarzweiß gehaltener Mikrostudie »Chroniques fidèles survenues au siècle dernier à l’hôpital psychiatrique Blida Joinville, au temps où le Docteur Frantz Fanon était chef de la cinquième division entre 1953 et 1956« begegnet. In der Klinik ist er mit schlaflosen Suizidalen konfrontiert, die an den Jahrestagen ihrer Vergewaltigungen an Tische und Betten gebunden werden, um sie vom Versuch abzubringen, sich das Leben zu nehmen. Er begegnet bewaffneten Kämpfern und entlaufenen Landarbeitern, die in den Gefängnissen des algerischen Staates gefoltert wurden. »Wir müssen die Fenster öffnen, statt die Türen zu schließen«, heißt es in einer der eindrücklichsten Szenen des Films, in der ein Mitstreiter von Fanon während einer Schulung des Pflegepersonals am Fensterkreuz dreht. In diesem Moment öffnen sich symbolisch die Flügel des gesamten Traktes.

Der ungewöhnlich lange Titel des Films ist bewusst gewählt, um den Zeitraum von drei Jahren zu akzentuieren, europäische Premiere feierte er 2024 im Forum-Programm der 74. Berlinale. In einer der ersten Dialogszenen weist der französische Anstaltsleiter Doktor Ramée (Gérard Dubouche) den neuen Chefarzt mit einem süffisanten Lächeln darauf hin, dass Schwangerschaften, Wutausbrüche und Suizide unbedingt zu vermeiden seien. Neben den obligatorischen Visiten bliebe dem Neuen viel »time to amuse« – Zeit, die Frantz Fanon sich nicht nehmen will. Er weiß, dass alles anders werden muss – und geht aktiv gegen die Logik der Trennungen und Teilungen vor. Von den Doktoren, die ihm gegenübersitzen, kommt kein einziger aus Algerien.

Den rassistischen Lehren der Algier-Psychiatrie setzt Frantz Fanon die Prinzipien seiner »institutionellen Psychotherapie« entgegen und macht aus einer geschlossenen Anstalt ein ambulantes Tageszentrum. Patienten und Pfleger gelten ihm als gleichwertig, mit beiden sitzt er zweimal pro Woche am selben Tisch. Fanon spricht mit ihnen wie mit seinen Schwestern und Brüdern, adressiert sie mit ihren richtigen Namen und hört gut zu. Die Anstaltskleidung weicht bald Selbstgeschneidertem, es gibt eine Fußballmannschaft und eine hauseigene Zeitung. Im Hof des Hospitals eröffnen die Patienten und Patientinnen ein kleines Café – ein vertrauter Ort inmitten der Anstaltsmauern, der sich anfühlt wie ein Zuhause.

Für Fanon ist das Krankenhaus in Blida-Joinville Teil eines größeren Machtgefüges, das auf Entfremdung, Enteignung, Kontrolle und bedingungsloser Ausbeutung beruht. Der Wahn stellt sich nicht als individuelles Leiden dar, sondern als Symptom einer Beraubung. Die Verrückungen der Köpfe und Körper sind die Spätfolgen einer kolonialen Landnahme, die in der algerischen Mitidja bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts begann. Spanische und italienische Kolonisten folgten auf die französische Vorhut und kultivierten auf den fruchtbaren Feldern Agrarprodukte für den Export. Nicht wenige von Fanons Patienten wurden eingeliefert, weil sie sich gegen Fremdherrschaft und Versklavung zur Wehr gesetzt hatten. Andere mussten mitansehen, wie Siedler ihre Familien abschlachteten – und wurden in Reaktion darauf selbst zu Mördern. Fanon wusste, dass Dekolonialisierung kein Gentleman’s Agreement ist – und bringt im Film Herren und Knechte an einen Tisch. Die Geschichten seiner Patienten hat er in Buch »Die Verdammten dieser Erde« zu einer Psychoanalyse der Kolonialisierten verarbeitet, ihre Krankheiten bedingt durch »die Pathologie der Atmosphäre«. Was Zahzahs Film über den Psychiater aus Martinique eindrucksvoll gelingt, ist das Porträt des Arztes im Zustand politischen Erwachens – weniger aber das des antikolonialen Kämpfers, der Fanon zu diesem Zeitpunkt längst war. In Krankenhaus von Blida-Joinville stieß er nicht beiläufig auf Mitstreiterinnen – er warb sie aktiv an. Zu ihnen zählten vor Ort die Ärztinnen Alice Cherki und Janine Belkhodja ebenso wie die Pflegerinnen Fadéla Mesli und Malika Gaïd, die als Mitglieder der Front de Libération Nationale (FLN) medizinische Netzwerke im Untergrund aufbauten.

Ein lautloses Wort zum Lippenlesen, eine unauffällige Geste, die Vertrauen weckt – der Film deutet diese zweite Realität bestenfalls an. Dass das Blida jener Jahre auch ein Durchgangszimmer für Akteurinnen des algerischen Befreiungskriegs war, dass hier Waffen versteckt und Verletzte gepflegt wurden, bleibt weitgehend unterbelichtet. Das Krankenhaus, das heute Frantz Fanons Namen trägt, war eine Station des Übergangs – von der Therapie zur Aktion. Im Sommer 1954 schien die Sonne nicht über der algerischen Mitidja, sie brannte schon.

»Chroniques fidèles survenues au siècle dernier à l’hôpital psychiatrique Blida-Joinville, au temps où le Docteur Frantz Fanon était chef de la cinquième division entre 1953 et 1956«, Regie: Abdenour Zahzah, Algerien/Frankreich 2024, 90 Minuten

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