Folgen der Gewalt
Von Kai KöhlerWürde bei der Berlinale ein Preis für den längsten Titel vergeben, dieser Film wäre unschlagbar: »Chroniques fidèles survenues au siècle dernier à l'hôpital psychiatrique Blida-Joinville, au temps où le docteur Frantz Fanon était chef de la cinquième division entre 1953 et 1956«. Versprochen wird also eine wirklichkeitsgetreue Chronik aus der noch nicht allzufernen Vergangenheit des 20. Jahrhunderts, mit genauer Angabe von Ort, Zeit sowie der genauen Funktion der Hauptfigur.
Nun wurde Fanon weniger als Chefarzt berühmt denn als Theoretiker des antikolonialen Kampfes. Dabei ist sein Hauptwerk »Die Verdammten dieser Erde«, veröffentlicht wenige Tage vor seinem Tod 1961, durch eine Ambivalenz gekennzeichnet, die sich durch den Beruf des Verfassers erklären lässt. Im berühmt gewordenen Eingangskapitel legt Fanon dar, wie der Kolonialismus die Kolonisierten zu Unpersonen erniedrigt und wie die Opfer durch antikoloniale Gewalt wieder zu Subjekten werden. Der weniger bekannte Schluss bringt Beispiele aus Fanons Praxis. Er zeigt, welche psychischen Schäden die im antikolonialen Befreiungskrieg unvermeidliche Gewalt bei allen Beteiligten verursacht: bei den kolonialen Tätern, den antiimperialistischen Kämpfern und auch denen, die sich heraushalten wollen, aber zu Zeugen werden. Einige der im Buch geschilderten Fälle sind in den Film eingegangen.
1953 also kommt der dunkelhäutige Fanon an eine psychiatrische Klinik im französisch kontrollierten Algerien. In seiner Abteilung vegetieren weiße Französinnen vor sich hin. Schnell macht Fanon mit der bloßen Verwahrpsychiatrie Schluss und arbeitet mit den Patientinnen. So schiebt man ihn in die Abteilung für algerische Männer ab, wo es noch viel finsterer zugeht. Auch hier schafft es Fanon, ein Vertrauensverhältnis zu den beiden wichtigen Gruppen aufzubauen: einerseits zu den Patienten, die die Institution als feindlich erlebt haben, und andererseits zu den Pflegern, die ihre Bequemlichkeit in der Tätigkeit als bloße Wärter aufgeben müssen.
Abdenour Zahzah erzählt dies in schwarzweißen, streng kadrierten Bildern. Die Einstellungen sind lang, man kann in Ruhe beobachten. Wie ist die Klinik räumlich gegliedert, wie bewegen sich darin die Menschen? Man sieht eine Fülle von Gesten, die oft auf eine sozial bedeutsame Haltung verweisen. Konflikte entwickeln sich meist untergründig.
Fanon, durch die Hauptfarbe auf einen Platz weit unten in der kolonialen Hierarchie verwiesen, hat als Stationschef die Befehlsgewalt. Auch diejenigen unter den weißen Ärzten, die die neuen Behandlungsmethoden ablehnen, müssen zurückhaltender auftreten, als sie es gerne täten. Jedenfalls so lange, bis der zweite Konflikt an die Oberfläche tritt. In die Handlungszeit fällt der Beginn des Algerienkriegs, der schließlich zur Befreiung von der französischen Herrschaft führte. Auch einheimische Patienten und Wärter haben Kontakte zu den Aufständischen. Fanon, der ohnehin als Theoretiker des Antikolonialismus auftritt, unterstützt bald auch praktisch die Nationale Befreiungsfront. Schließlich muss er – zur Freude der reaktionären Kollegen – das Land verlassen. Welche privaten Verluste damit verbunden sind, wird deutlich gezeigt, ohne es emotional auszuspielen.
Der Titel benennt korrekt das Genre. Es handelt sich um kein Drama, sondern um eine Chronik. Die Ereignisse sind denkbar unspektakulär vermerkt, was den Erkenntniswert des Films befördert.
»Chroniques fidèles survenues au siècle dernier à l'hôpital psychiatrique Blida-Joinville, au temps où le Docteur Frantz Fanon était chef de la cinquième division entre 1953 et 1956«, Regie: Abdenour Zahzah, Algerien/Frankreich 2024, 90 Min., »Forum«, 23.2.
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