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Aus: Ausgabe vom 19.07.2025, Seite 12 / Thema
Psychologie

Die innere Kolonie

Vor hundert Jahren wurde Frantz Fanon geboren, der die ideologischen Mechanismen des Kolonialsystems zu sehen lehrte
Von Stefan Ripplinger
»Handlanger der Polizei« im Kolonialsystem: Französische Ärzte untersuchen Algerierinnen (um 1957)
Frantz Fanon war schonungslos kritisch, nicht nur dem Imperialismus, auch sich selbst gegenüber

Der Psychiater Frantz Fanon (1925–1961) konnte die algerische Revolution denken, weil er kein Algerier war. Er galt, wie Jean-Paul Sartre schrieb, als der »Schwarze unter weißen Moslems«. Gerade dass er fast überall ein Fremder war, ließ ihn Widersprüche erkennen, die andere gern übersahen.

Wie die Crème der antikolonialen Denker – Aimé Césaire, Édouard Glissant, Stuart Hall – stammte auch Fanon von den Antillen, nämlich von Martinique. Das Leben auf den Antillen wurde nicht von Apartheid, sondern von Kreolisierung bestimmt. Manche, die schwarze Vorfahren hatten, traten in den Dienst der Plantagenbesitzer oder des imperialen Staates, das galt für die Väter von Césaire, Fanon, Glissant und Hall gleichermaßen. Fanons Vater war ein kleiner Beamter in Fort-de-France, der Hauptstadt von Martinique, die Mutter, eine »métisse«, hielt nach dem frühen Tod ihres Mannes die Familie mit einem Krämerladen über Wasser. Sie gaben dem Jungen, den elsässischen Vorfahren der Mutter zu Ehren, einen deutschen Vornamen, Frantz.

Vor dem Hintergrund der Antillen war es möglich, die Rassifizierten nicht nur als Opfer und Objekte, sondern auch als Subjekte zu sehen – als vom Kolonialsystem erzeugte Subjekte. Ihre Wahrnehmung war ebenso von Angst wie von Selbsttäuschung bestimmt. Fanon studierte das zunächst an sich selbst. Wenn der Knabe die üblichen Comics und Cowboygeschichten las, neigte er dazu, sich mit den weißen Helden zu identifizieren, die die schwarzen Unholde und die »Bad Injuns« (die Indigenen) zur Strecke bringen. »Ich bin ein Schwarzer – doch weiß ich das nicht von Natur aus, weil ich es ja bin.«

Der Antillenbewohner musste, wie Glissant (»Diskurs der Antillen«; 1981) schreibt, das »Prinzip der Herrschaft, das im Land selbst nicht sichtbar« war, woanders suchen: in Europa. Dass sie selbst, wie es in der »Internationalen« heißt, zu den »Verdammten dieser Erde« zählen, haben Césaire, Fanon, Glissant und Hall auf Martinique oder auf Jamaika durchaus gespürt. Doch bewusst wurde es ihnen erst, als sie nach Europa kamen. Fanon machte diese Erfahrung als Soldat auf seiten der Alliierten im Zweiten Weltkrieg.

Der achtzehnjährige Fanon hatte sich auf eigene Faust den Freien Französischen Streitkräften jenes General de Gaulle angeschlossen, der später zu seinem großen Gegner werden sollte. Nach einer Grundausbildung auf Dominica führte Fanon der antifaschistische Kampf zunächst nach Marokko, wo er feststellen musste, dass nicht allein das Vichy-Regime rassistisch ist. De Gaulles bunt zusammengewürfelte Freiwilligenarmee machte es sich zur Regel, immer erst die Dunkelhäutigen ins Feuer zu schicken. Mit dem Titel eines Kriegsfilms von John Ford gesagt: »They were expendable«; sie waren entbehrlich.

In seinem ersten Buch (1952) erinnert sich Fanon, er habe es erlebt, dass dreimal hintereinander den senegalesischen Kampfgefährten befohlen wurde, gegen eine Maschinengewehrstellung vorzurücken, dreimal seien sie zurückgeschlagen worden, bis sie fragten, warum nicht auch einmal die »toubabs« (Weißen) ihr Kriegsglück wagten. In solchen Momenten, scherzt Fanon, habe er nicht mehr gewusst, wer er ist, »Toubab oder Eingeborener«. Diesem ersten, stilistisch meisterhaften Buch Fanons hat der Mitarbeiter Sartres und algerische Untergrundkämpfer Francis Jeanson den Titel »Schwarze Haut, weiße Masken« (1952) gegeben. Fanons ursprünglicher Titel verrät bereits die marxistische Prägung: »Essay über die aufgehobene Entfremdung des Schwarzen«.

Der Schleier fällt

Der Krieg verschlug Fanon nach Frankreich, wo er im November 1944 von Granatensplittern schwer verwundet wurde. Er erhielt den »Croix de Guerre«. Der Orden wurde ihm ausgerechnet von General Raoul Salan verliehen, der 1956 zum Oberaufseher über die Folterungen und Morde in Algerien werden und am 21. April 1961 zu den faschistischen Militärs gehören sollte, die gegen de Gaulle putschten.

Im April 1945 schrieb Fanon seiner Familie: »Es ist nun ein Jahr her, dass ich Fort-de-France verlassen habe. Warum? Um ein verkommenes Ideal zu verteidigen. (…) Ich zweifele an allem, selbst an mir. Wenn ich nicht zurückkehre und Ihr eines Tages erfahren müsst, dass ich im Kampf mit dem Feind gefallen bin, tröstet Euch, aber sagt niemals: ›Er starb für die gerechte Sache‹ (…), denn diese verfehlte Ideologie, hinter der sich die Modernisierer und die stumpfsinnigen Politiker verschanzen, sollte uns nicht länger erfüllen. Ich habe mich getäuscht! Nichts, rein gar nichts rechtfertigt meine überstürzte Entscheidung, mich zum Verteidiger der Interessen des Grundbesitzers (fermier) zu machen, dem ich selbst schnurz bin.«

Das bedeutet wohlgemerkt nicht, dass Fanon dem Antifaschismus abgeschworen hätte. Doch deckten sich, wie er nun auf bittere Weise lernen musste, die Interessen des antifaschistischen Europäers nicht mit denen seiner Leute. Auch der Krieg der Alliierten war einer des »weißen Mannes«. Césaire hat das in einer der bedeutendsten Reden des Jahrhunderts, »Über den Kolonialismus« (1955), in großer Klarheit formuliert. Was der christlich-humanistische Bourgeois dem deutschen Führer nicht verzeihen könne, sei, dass er »in Europa kolonialistische Methoden angewandt hat, wie sie bislang nur bei den Arabern Algeriens, den Kulis Indiens und den Schwarzen Afrikas zum Einsatz kamen«.

Auf die frustrierende Erfahrung, die die von den Antillen kommenden Intellektuellen in Europa und durch Europa machen mussten, folgte als erste mächtige Reaktion die von Césaire, dem Senegalesen Léopold Sédar Senghor und dem aus Französisch-Guyana stammenden Léon-Gontran Damas 1935 begründete Bewegung der Négritude. Die Négritude ist bei Césaire erst trotziges Annehmen der eigenen Geschichte als Nachfahre der Sklaven, dann der Aufstand gegen diese Geschichte: »wann / wann endlich wirst den verdrossenen Hampelmann du nicht mehr spielen / beim Karneval der anderen / oder auf fremder Leute Felder / die antiquierte Vogelscheuche« (Nachdichtung von Klaus Laabs).

Fanon hat diesen Aufstand zwar begrüßt, aber lediglich als Aufstand, nicht als Rückkehr zu irgendwelchen afrikanischen Wurzeln, die er für gekappt hielt. Überkommene Traditionen begrüßte er nur, wenn sie sich dem überkommenen Europa verweigerten. Anschaulich geht Fanon auf diese Dialektik in seinem nächsten, in Frankreich sofort verbotenen Buch ein, dessen Titel an die Zeit des Direktoriums der Französischen Revolution erinnert: »L’an V de la révolution algérienne« (Das Jahr V der algerischen Revolution; 1959). Der französische Besatzer, heißt es da spöttisch, führe in Algerien eine »grandiose Schlacht« gegen den Schleier der muslimischen Frau. Doch lässt der Versuch, Frauen zu entkleiden, in einem Land, in dem die Vergewaltigung von Algerierinnen durch französische Soldaten und Polizisten an der Tagesordnung war, noch andere Gründe vermuten als die vorgeschobenen zivilisatorischen. Fanon formuliert das gewandt in einem Satz, der die Wörter »voile« (Schleier) und »viol« (Vergewaltigung) engführt: »Im Traum des Europäers geht der Vergewaltigung der algerischen Frau stets das Zerreißen des Schleiers voraus.«

Das ist aber keine Verteidigung des Schleiers, sondern nur eine des Widerstands gegen die Entschleierer. Fanon dachte sich Kultur stets von der Befreiung geleitet und geformt. Diese Vorstellung ist sehr nahe bei Sartre, für den Bewusstsein und Subjekt aus der Praxis hervorgehen. Der Aufständische ist Produkt eines Aufstands, der immer größer ist als er selbst.

Gegen die bürgerlichen Theoretikerinnen und Theoretiker, die Rassismus, Antisemitismus, Autoritarismus, aber auch Rebellion psychologisieren und parzellieren wollen, erklärt Fanon: »Eine Gesellschaft ist entweder rassistisch oder sie ist es nicht.« Südafrika oder Australien oder Europa sind aufgrund ihrer kolonialistischen Struktur rassistische Systeme, denen auch der großbürgerliche Philanthrop nicht entkommt. Das hat zwei wesentliche Konsequenzen: Der Kolonialisierte ist, erstens, nicht von Natur aus unterwürfig oder gar »minderwertig«, er wird zu einem Minderwertigen, einem Triebhaften, einem Hässlichen gemacht. Schwarz ist die Farbe des Übels, der Krankheit, des Todes.

Die Sache wird schwieriger noch dadurch, dass, zweitens, auch derjenige, der sich der rassistischen Struktur verweigert, ihr gegen seinen Willen verhaftet bleibt. Diesen unbequemen Umstand erörtert Fanon in »L’an V«. Der Hintergrund ist nun nicht mehr »l’umwelt martiniquais«, sondern die französische Kolonie Algerien.

Mengele à la française

Im Dezember 1953 ernannte man Fanon, der schon erste Erfahrungen in anderen Institutionen gesammelt hatte, zu einem der fünf Chefärzte der psychiatrischen Klinik im algerischen Blida-Joinville. Nach seiner Ausweisung aus Algerien 1957 bekleidete er dieselbe Position in zwei Psychiatrien von Tunis. Obwohl er auch den Einsatz von Psychopharmaka und Elektroschocks erlaubte, orientiert sich das, was er vor Ort durchsetzte, an der von dem genialischen François Tosquelles, einem kommunistischen Psychiater, entwickelten »institutionellen Psychotherapie«. Der Einfluss von Tosquelles ist allein daran schon zu erkennen, dass auch Fanon den psychisch Kranken einen »Entfremdeten« (aliéné) nennt. Wie Tosquelles strebte Fanon danach, die Anstalt radikal umzufunktionieren: Er richtete Werkstätten und ein maurisches Café ein, untersagte die Verwendung von Zwangsjacken. Gar in Richtung Antipsychiatrie geht, dass er in Tunis eine Tagesklinik organisierte, also den Freigang der Patientinnen und Patienten erlaubte, zu denen traumatisierte Opfer von Folterungen und Vergewaltigungen ebenso gehörten wie an ihrem Dienst irre gewordene Folterer. Wie vor ihm Tosquelles studierte er den Zusammenhang von Wahnsinn und Gewalt. Er musste diesen Zusammenhang nicht historisch deduzieren wie Michel Foucault, er lag wie ein offenes Buch vor ihm.

Das machte aber auch seine eigene Stellung zu einer höchst prekären. In einem erst schwelenden, dann – ab dem 1. November 1954 – aufflackernden Kolonialkrieg, der 300.000 Tote fordern sollte, konnte niemand neutral sein. Fanon betrachtet das Problem in einem detailsatten Aufsatz über »Medizin und Kolonialismus« (enthalten in »L’an V«). Der Arzt, schreibt er da und reflektiert auch eigene Erfahrungen, stehe einem seltsam verschlossenen Patienten, einer seltsam abweisenden Patientin gegenüber, einsilbig und mürrisch seien sie. Verschriebene Pillen werden nicht oder alle auf einmal eingenommen, Folgetermine nicht eingehalten, Empfehlungen in den Wind geschlagen. Am liebsten wollten alle eine Spritze bekommen und dann das Weite suchen. Weit verbreitet sei die übrigens nicht ganz unbegründete Meinung, man komme zwar in eine Klinik der Kolonialherren hinein, aber nicht immer lebend wieder heraus.

Fanon weigert sich, dieses Phänomen ethnologisch zu betrachten. Die westliche Medizin werde in Algerien scheel angesehen, aber nicht oder jedenfalls nicht allein, weil sie den Arabern fremd sei, sondern weil der Arzt wie der Pfarrer, der Polizist, der Richter, der Gefängniswärter Teil des Kolonialsystems ist. »Der Psychiater ist der Handlanger der Polizei«, bemerkt Fanon an anderer Stelle (»Écrits«; 2015). Er macht auf einen verblüffenden Umstand aufmerksam: Kaum einen Arzt gebe es, der nicht auch ein Stück Land besitzt. Kurz, auch der Arzt oder die Ärztin ist Siedler oder Siedlerin.

Die Ärzte sind außerdem auf diabolische Weise ins Kolonialsystem eingebunden. Sie sind es, die sich das Vertrauen des Folteropfers erschleichen, um ihm dann das »Wahrheitsserum« Penthotal zu spritzen. Sie sind es, die die Gefolterten mit verschiedenen Stimulanzien notdürftig wiederherstellen, damit die Tortur fortgesetzt werden kann. Fanon konstatiert trocken: »Der Arzt, der als Einzelner in Algerien getötet wird, ist immer ein Kriegsverbrecher.« Besonders finster waren die mengelehaften medizinischen Experimente, die die Franzosen an Algeriern durchführten; dabei wurden Epilepsien künstlich herbeigeführt.

Sicher gab es Sadisten wie jenen Klinikleiter von Blida, der Kriegsopfern in den Bauch trat. Aber viel häufiger kam der Arzt, wie Fanon feststellt, aus einem demokratischen, antikolonialen, bürgerlichen Milieu und wurde erst unter kolonialen Bedingungen zu einem »Teil der Besatzung, der Herrschaft und der Ausbeutung«. War Fanon selbst Teil des Systems? Selbstverständlich – gegen seinen erklärten Willen. Mit einer gewissen Zwangsläufigkeit wurde dieser Verehrer der Viet-Minh nun zum Revolutionär.

Auftrag der Toten

Die Revolution ist die einzige Möglichkeit, aus dem Kolonialsystem auszubrechen. Denn jede Revolution zielt auf ein anderes System und hat das alte wenigstens virtuell bereits überwunden. Nach seiner Ausweisung aus Algerien war Fanon nicht nur Psychiater in Tunesien, sondern auch eng eingebunden in die Propagandaabteilung der FLN (Nationale Befreiungsfront Algeriens). Das blieb der Kolonialmacht nicht verborgen, die wenigstens zwei Attentate auf Fanons Leben unternahm. Doch ging es ohnehin mit ihm zu Ende, denn schon zeigten sich Symptome der Leukämie, der er erliegen sollte. 1961 diktierte er sein letztes Buch und es sollte alles andere als eine FLN-Propaganda werden.

»Die Verdammten dieser Erde« ächzt unter dem gewaltigen Widerspruch von Anspruch und Wirklichkeit. Das Buch setzt den schon erwähnten Grundgedanken Fanons voraus, dass ein Kolonialsystem insgesamt, als Totalität, überwunden werden muss. Es bedarf dafür einer Revolution, also der Gewalt. Der Begriff der Gewalt und derjenige der Nation bestimmen und begrenzen sich hier gegenseitig. Die Gewalt ist einzig und allein auf die Herstellung einer neuen Nation bezogen. Die Gewalt richtet sich also nicht, wie manche unterstellt haben, gegen Weiße, sondern gegen den kolonialen Zustand. »Nation« wiederum beschreibt nichts anderes als den klar definierten politischen Raum, in dem sich die Umwälzung vollziehen soll. (Es wäre auch wunderlich, wenn ein gar nicht im Lande Geborener sich auf Blut und Boden hätte beziehen wollen.)

Innerhalb der nationalen Grenzen stellen sich im Land neue innere Verhältnisse her, werden aber auch neue äußere geknüpft, beispielsweise zu anderen (beispielsweise afrikanischen) Nationen, die Ähnliches unterfangen. Mehr noch: »Allein dasjenige Nationalbewusstsein, das kein Nationalismus ist, vermittelt uns die Dimension des Internationalen.« Erst das in einem partikularen Rahmen Erreichte gibt dem Universalen eine reale Chance.

Nun lässt Fanon aber auf diese völlig plausible Theorie eine niederschmetternde Empirie folgen. Zur Zeit des Diktats von »Die Verdammten« hatten sich etliche Länder Afrikas – 17 allein im Jahr 1960 – bereits befreit, aber was auf ihre Befreiung folgte, wirkte oft wie eine neue Unterwerfung: Eine in jeder Beziehung unterentwickelte Kompradorenbourgeoisie unterhielt weiterhin enge Verbindungen zu den einstigen Herren, die auch kraft ihrer Wirtschaft oder ihres Militärs noch immer die politischen Verhältnisse ihrer früheren Kolonien wesentlich mitbestimmten. Fanon sagte im Gespräch mit Sartre: »Die Weißen gehen, aber ihre Komplizen sind unter uns, von ihnen bewaffnet; das letzte Gefecht des Kolonisierten gegen den Kolonialherrn wird oft das Gefecht von Kolonisierten untereinander sein.«

Irritiert nahm Fanon zur Kenntnis, dass der madagassische Minister Jacques Rabemananjara, nebenbei ein Dichter der Négritude, der Revolution in Algerien, dem »weißen Afrika«, die Solidarität verweigerte. Fanon kommentierte bitter, die 90.000 Toten des Aufstands von Madagaskar (1947) hätten Rabemananjara zu diesem Winkelzug »nicht den Auftrag erteilt«.

In der Banlieue

»In einer Epoche, in der nationalistischer Enthusiasmus und nationalistische Euphorie das Urteilsvermögen, also den kritischen Sinn trübten, legte Fanon Zeugnis von einer Klarsicht und einem intellektuellen Mut ab, die ebenso verwirrend wie bemerkenswert waren«, schreibt Adam Longuet (»Un héritage à partager«; 2013). »Verwirrend« war Fanons Buch in der Tat, denn wenn die Entkolonialisierung solche üblen Konsequenzen wie diejenigen zeitigen konnte, die er darin schonungslos festhält, wurde sie dadurch zwar nicht an sich fragwürdig – die von den Franzosen verübten Massaker hatten allen Linken und sogar manchen Liberalen die Augen geöffnet –, doch musste der revolutionäre Elan unter dieser Erkenntnis erheblich leiden.

Können Fanons erste beiden zu Lebzeiten erschienenen Bücher als Selbstkritik gelesen werden, ist sein drittes auch eine Kritik der Bewegung, der er sich angeschlossen hatte. Er hatte das Pech, die Entkolonialisierung in einem Stadium zu erleben, als die Imperialmächte weltweit noch das Zepter führten und ihren Einfluss auch da geltend machten, wo sie offiziell gar nichts mehr zu melden hatten. Günstiger steht es erst, seitdem die USA und Europa im Niedergang begriffen sind und immer neue Länder, allen voran die BRICS-Staaten, sich der früheren Abhängigkeit entwinden können.

Vor allem die Härte, die Fanon gegen sich selbst beweist, verleiht seinen Büchern noch heute ihren hohen Wert. Sie kennen keine unschuldigen Opfer, sondern entwickeln eine Situation der Unterdrückung, in der sich der Sklave immer auch »selbst versklavt«. Jenseits ihrer historischen Hintergründe lassen sich Fanons Untersuchungen auf die »inneren Kolonien« anwenden – sowohl auf die innerhalb der Industriestaaten als auch auf diejenigen, die noch immer die Köpfe beherrschen. Die Black Panther, die sich mit Begeisterung auf Fanon berufen haben, gehörten zu den Ersten, denen das aufgefallen ist.

Der Soziologe Loïc Wacquant hat kürzlich in der New Left Review (152/2025) Parallelen zwischen dem Strafsystem der Kolonien und der französischen »Banlieue« oder dem deutschen »Problemviertel« aufgezeigt. Zwar wird in solchen Gegenden, anders als mit den Plantagen, nicht Profit gemacht, außerdem fallen, rein formal, die rassifizierten Bewohner nicht unter ein Sonderrecht. Und doch werden ihnen, wie ihren Vorfahren in der Kolonie, Vergehen vorgeworfen, die nur sie allein begehen (damals Hexerei, heute Bandenbildung), auch werden auf sie besondere Strafmethoden wie Schnellverfahren und regelmäßige Razzien angewandt. Neuerdings tritt die Drohung der Abschiebung hinzu. Wer verstehen will, wie es zu solchen rassistischen Verhältnissen kommt, profitiert noch heute von Frantz Fanons lebendigen und klugen Schriften.

Stefan Ripplinger schrieb an dieser Stelle zuletzt am 21. Juni 2025 über Jean-Paul Sartre: »Durch das Nadelöhr«

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