Zu den Sternen
Von Gisela Sonnenburg
Die Ballettwelt ist eine Märchenwelt. Mit einem nachgerade berauschend schön getanzten Kunstmärchen begannen am Sonntag die 50. Hamburger Ballettage: »Die kleine Meerjungfrau« von John Neumeier, 2005 in Kopenhagen uraufgeführt, präsentiert sich in einer neuen Version und ist in den kommenden zwei Wochen noch einige Male beim Hamburg-Ballett zu sehen. Trotz der historischen Vorlage durch den dänischen Dichter Hans Christian Andersen (1805–1875) handelt es sich um ein modernes Ballett: Die Titelfigur, überragend von der chinesischen Hamburger Ballerina Xue Lin verkörpert, trägt einen überlangen, blauseidenen Hosenrock als Fischschwanz, dazu ein surrealistisches, weißes Make-up.
Sie ist ein Phantasiewesen, aus Liebe zu einem irdischen Prinzen dem Meer entstiegen. Klar, dass das nicht gut gehen kann: Der Prinz liebt eine Prinzessin, die Meerjungfrau bleibt seine komisch-kindliche Kumpeline. Fast kommt es zu einem Kuss, aber eben nur beinahe. Ihr Liebeskummer ist so berührend, dass man Gänsehaut bekommt. Am Ende bleibt ihr nur der Gang zu den Sternen, allerdings ist sie bei diesem nicht allein: Neumeier stellt ihr den Dichter Andersen, der sie einst erfand, auf der Bühne zur Seite.
Eine starke Allianz aus Sinnlichkeit und Magie durchwirkt diese Geschichte. Im Eiltempo hat das Hamburg-Ballett sie neu einstudiert, denn eigentlich sollte statt der poetischen »Meerjungfrau« das hypertechnische »Surrogate Cities« des geschassten Ballettintendanten Demis Volpi gezeigt werden (jW berichtete). Der neue – zunächst kommissarische – Chef vom Hamburg-Ballett ist der US-Amerikaner Lloyd Riggins. Früher eine Muse des Tanztitans Neumeier, war er in den letzten Jahren sein Stellvertreter. Riggins tanzte einst selbst die Figur des Dichters, zudem hat er das Stück an Theatern von San Francisco bis Moskau mit einstudiert.
Neumeier selbst fehlte bei der Premiere, womit bewiesen ist, dass es auch mal ohne seine Anwesenheit geht. Aber dass der neue Boss Riggins sich nicht mit den Tänzern verbeugte, war schade. Vor ihm liegt ja noch eine ganz andere Mammutaufgabe als nur eine Einstudierung: In ähnlichem Eiltempo muss er das Ensemble vom Hamburg-Ballett für die Zukunft neu formieren.
Denn die fünf Stars, die aus Abscheu vor dem destruktiven Exchef Volpi beim Hamburg-Ballett kündigten, werden nicht zurückkehren, höchstens als Gäste. Der besonders anmutige Alexandr Trusch wird fehlen, ebenso die virtuose Japanerin Madoka Sugai. Auch drei weitere Megabegabte, die woanders Engagements bekamen, reißen Löcher.
Im Nu müssen neue Erste Solisten her. Normalerweise lässt man Nachwuchstänzer über Jahre in so ein Profil hineinwachsen. Diese Zeit hat Riggins jetzt nicht. Immerhin wird Matias Oberlin, Erster Solist und schauspielerisch ein Vollblut, vieles auffangen. Er kann sowohl die Liebhaber verkörpern (wie jetzt den Prinzen in der »Meerjungfrau«) als auch charakterstarke Bösewichte (wie die böse Fee in »Dornröschen«). Vervielfachen kann er sich aber auch nicht.
Noch ärger sieht es bei den Damen aus: Erst kürzlich wurde das Ensemble stark verjüngt. Allerdings gibt es unter den vielen jungen Mädchen hohes Potential – das muss entwickelt werden. Auch am Spielplan wird noch gebastelt. Für kommenden Dezember war ja eine Uraufführung von Demis Volpi angesagt, derzeit wird ein Ersatz gesucht. Und ob die geistlosen Mitmachveranstaltungen, die Volpi einführte, künftig in Hamburg eine Chance haben, bleibt abzuwarten. Eigentlich gibt es staatliche Ballettsäle, damit die Profis darin arbeiten. Dafür, dass unbegabte Zuschauer dort herumhüpfen, sind sie nicht gedacht.
Ansonsten bleibt die Truppe der Linie von John Neumeier, der 51 Jahre lang ihr Chef war, treu. Tatsächlich ist Neumeier einer der ganz wenigen genialen Märchendealer, von denen sich der zauberhafte Nimbus des Balletts nährt. Die Werke eines so bewährten Weltkünstlers verfangen immer wieder, man sollte sie nicht verschmähen. Lust auf Neues wird dennoch auch Lloyd Riggins umtreiben. Einen ersten Vorgeschmack erhält man womöglich zum Abschluss der Saison: am 20. Juli bei der diesjährigen »Nijinsky-Gala«.
Zuvor locken bunte Events in den Hamburger Ballettsommer. So kommen der »Tod in Venedig« nach Thomas Mann, »Romeo und Julia« nach Shakespeare und »Njinsky« nach dem Leben von Waslaw Nijinsky – allesamt von Neumeier choreographiert – zur Aufführung. Der Meister selbst wird am 13. Juli eine Matinee mitgestalten und dort aus dem Nähkästchen plaudern.
Der Stuttgarter Star Friedemann Vogel bietet zudem mit »Die Seele am Faden« sein Muskelspiel als Soloabend frei nach Kleist an. Mit »Slow Burn« und »The Times Are Racing« erwarten attraktive Mehrteiler das Publikum. Das Bundesjugendballett zeigt derweil mit »Shall We Dance? – Tanz zwischen den Kriegen« einen eigenen Neumeier-Abend. Und wer auffällige Kostüme mag statt viel Tanz, besucht »Sonoma« von der Marcos-Morau-Gruppe »La Veronal«. So etwas wird man so schnell sicher nicht wieder in Hamburg sehen. Manche sagen: welch ein Glück.
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