Ananas
Von Helmut Höge
In dem Roman des chinesischen Soziologen Wang Xiaobo »Das Goldene Zeitalter« (2024), in dem es um das Rowdytum des Ich-Erzählers während der »Großen Proletarischen Kulturrevolution« geht, das der Autor als aufs Land verschickter junger Intellektueller erlebte, heißt es an einer Stelle: »Ich befand mich in Yunnan in einer Landkommune und stahl Ananas. Lautlos schlich ich durch die Nacht und schlug eine Ananas nach der anderen ab. Jede hielt ich zuerst prüfend unter die Nase. Duftete sie süß, wanderte sie in den Jutesack auf meinem Rücken, wenn nicht, ließ ich sie fallen.« Während der Kulturrevolution waren Diebstähle von Früchten auf den Feldern der Bauern weit mehr als nur ein Mundraub. Zumal die Wirren dieser Zeit wegen der daraus folgenden Lebensmittelknappheit in China die Agrarprodukte immer wertvoller machten und die Bauern ihre Felder nachts bewachten.
Die Ananas ist laut Wikipedia »eine Pflanzenart aus der Familie der Bromeliengewächse. Sie ist ursprünglich in Südamerika heimisch und wird heute weltweit in den tropischen Gebieten als Obstpflanze angebaut. Sie bildet fleischige Fruchtstände, die frisch verzehrt oder zu Konserven und Saft verarbeitet werden können.«
Die hawaiianische Anthropologin Kaori O’Connor, spezialisiert auf koloniale und postkoloniale Esskultur, schreibt in ihrem Buch »Ananas – Die Geschichte eines Aufstiegs« (2025), dass die Frucht erstmalig von Christoph Kolumbus nach Europa gebracht wurde, wo sie sich in den Königshäusern, etwa später bei den Reichen großer Beliebtheit erfreute. Mit dem zunehmenden Frachtverkehr und verbesserter Konservierungstechnik wurde die Ananas in der Folgezeit immer billiger, vor allem in England, so dass auch die Armen sich gelegentlich kleine Ananasstücke leisten konnten. Der Adel war darob not amused.
»Heute ist die Ananas ein globales Produkt«, schreibt O’Connor, »eine der wichtigsten Waren großer transatlantischer Konzerne, angeführt vom US-Konzern Dole Food Company Inc., der inzwischen zum größten Produzenten weltweit für Früchte und Gemüse avanciert ist. Nach Bananen sind Ananas die am häufigsten verzehrten Tropenfrüchte, die frisch, gefroren, getrocknet, als Saft, Konserve, Konzentrat, Püree, Essenz, Aromastoff oder Sirup verkauft werden.«
Man könnte hinzufügen: Sogar als Antibiotikum, denn meine experimentierfreudige Hausärztin Dorothea verschrieb mir einmal gegen eine Entzündung im Unterleib ein aus Ananas hergestelltes Mittel. Später kam heraus, dass es den Entzündungsherd nicht beseitigt, sondern nur eindämmt. Das tut es jedoch bei mir bis heute.
Desungeachtet wird dieses Vorgehen von Ärzten inzwischen abgelehnt. Ebenso die als Geschmacksverirrung abgetane, in den USA aber beliebte »Ananaspizza« und hier der früher allseits begehrte »Toast Hawaii«, bestehend aus Schinken, Ananas, Käse und amerikanischem Weißbrot. Diese getoastete Schichtung gilt inzwischen, ähnlich wie der Hamburger, als ungesundes Unterschichtfastfood.
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