Die Verrückbaren
Von Reinhard Lauterbach
Das Zitat ist apokryph, aber offiziell überliefert. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat es 2016 – damals noch als Außenminister – in einer Gedenkansprache für Egon Bahr dem großen Realpolitiker der SPD zugeschrieben: »Amerika ist unverzichtbar. Russland ist unverrückbar.« Gemeint war: Man muss das Land von Moskwa, Wolga und Amur nicht lieben, um zu wissen, es ist da und wird Deutschlands Nachbar bleiben. Steinmeier führte den Gedanken seinerzeit fort: Nachhaltige Sicherheit in Europa könne es nicht ohne Russland und gegen es geben.
Ob er das heute so wiederholen würde, wie es die Webseite des Auswärtigen Amtes unvorsichtigerweise noch dokumentiert, mag dahingestellt sein. Denn inzwischen herrscht in der deutschen Presse ein anderer Ton. So in der Süddeutschen Zeitung vom Donnerstag, in der Osteuropakorrespondent Florian Hassel giftete, alle spielten Wladimir Putin in die Hände: von Donald Trump angefangen, der die Ukraine zugunsten Israels verrate. »Antisemitismus«? Wenn dasselbe Argument in dieser Zeitung stünde, wäre der Vorwurf nicht weit. Täte es zwar eh nicht, aber Hassel darf das. Er macht weiter:
»Genüsslich kann Machthaber Putin zudem zusehen, wie friedensbewegte SPD-Prominente erneut einen Dialog mit ihm fordern. Oder wie nach Ungarn auch die Slowakei zum russischen Satelliten wird.«
Auf der Seite davor hatte derselbe Autor eine tränendrüsige Reportage über einen Besuch bei einem Verein namens »Starke ukrainische Mütter«, die nach dem Verlust ihrer Männer oder Söhne im Krieg jetzt Geld für Drohnen sammeln, um sie der ukrainischen Armee zu spenden. Damit die Toten »nicht sinnlos gestorben« seien. Das waren die Seiten vier und drei des einst linksliberalen Blatts aus München, die ganze zwei nahm ein Text darüber ein, wie deutsche »Sicherheitsbehörden« sich jetzt auf die Abwehr russischer Drohnenflüge über Deutschland vorbereiteten, für deren Abschuss im Moment leider noch die Rechtsgrundlage fehle. Nicht ohne Grund ist der bisherige Außenpolitikchef der SZ, Stefan Kornelius, zum Regierungssprecher in Berlin avanciert. Sein Stall muht auch ohne ihn.
Dafür darf gern auf Linie phantasiert werden. Im Spiegel der zu Ende gehenden Woche meinte die Kolumnistin Susanne Beyer, Friedrich Merz habe den Grünen Unrecht getan und müsse sich bei ihrer Fraktionschefin Franziska Brantner ganz formell entschuldigen. Denn die hätten schon vor der Wahl gefordert, was ihm erst jetzt eingefallen sei:
»Militärausgaben von fünf Prozent des Sozialprodukts (…). Es ist genau die Zahl, die Söders Lieblingsfeind Robert Habeck schon im Januar genannt hat. (…) Ich stelle mir nun also vor, wie Merz und Brantner sich zusammensetzen und sich ein paar Gläschen genehmigen. Es ist durchaus möglich, dass Merz ins Schwärmen gerät, wie nah sich die beiden Parteien auch sonst seien, vor allem in der Außenpolitik. Mit einem ›Manifest‹, das zum Dialog mit Russland aufruft, wie es ein paar SPD-Genossen aufgesetzt haben, hätten die Grünen Merz ganz bestimmt nie belästigt.«
Das stimmt zweifellos. An Kriegsbegeisterung lassen sich die Grünen heute so wenig übertreffen wie die FAZ auf dem Feld der Migrantenfeindlichkeit. Dienstag, Seite zehn: »Die Regierung Merz (sendet) Signale in die Welt, dass Deutschland nicht mehr sperrangelweit offensteht für jeden, der genug Geld auftreibt, um die Schlepper zu bezahlen. (…) Über das Gelingen der Migrationswende entscheidet die Begrenzung des Zuzugs. Da braucht es härtere Maßnahmen und Signale als ein freundliches Gespräch mit Migranten beim Syrer.« Zum Beispiel, dass der Autor dort nicht mehr bedient wird. Nirgendwo. Keinen Döner, keine Cola für den Hetzer Berthold Kohler.
An Kriegsbegeisterung lassen sich die Grünen heute so wenig übertreffen wie die FAZ auf dem Feld der Migrantenfeindlichkeit
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