Gegründet 1947 Sa. / So., 19. / 20. Juli 2025, Nr. 165
Die junge Welt wird von 3019 GenossInnen herausgegeben
Aus: Ausgabe vom 05.07.2025, Seite 6 (Beilage) / Wochenendbeilage

Von ewigen und letzten Kriegen

Vor sechs Jahren lief die letzte Folge von »Game of Thrones«, nächstes Jahr ist 15. Jubiläum. Und wir machten einfach weiter
Von Hagen Bonn
6-7.jpg
Frisst das Volk nur gut durchgebraten: Die Drachenbrut der Sturmgeborenen

Das größte Fernsehereignis aller Zeiten ist zweifelsohne »Game of Thrones« (nachfolgend GoT; acht Staffeln, USA 2011–2019). Die Los Angeles Times feierte im April 2011 zu Recht diese »großartige und kolossale Serie über politische und psychologische Intrigen«. Der Autor der Romanvorlage George R. R. Martin und die Produzenten David Benioff und D. B. Weiss verstanden es kongenial, allbekannte Mythen, erstklassige erzählerische Komplexität und die typisch trivialen Grenzüberschreitungen des dafür bekannten Senders (HBO) miteinander zu verbinden. Die Transformation des Allbekannten und Beliebten wurde immer wieder mit Raffinesse auf die Spitze getrieben, was nur gelang, weil man Martins Romanreihe (»Das Lied von Eis und Feuer«, seit 1996) von Staffel zu Staffel immer freier adaptierte. Das konnte nicht anders kommen, denn die Kraftentfaltung in so unterschiedlichen Medien wie buchgebundene Literatur und Film folgt deren jeweils eigenen Gesetzen. Die Frage »Was findest du besser, den Film oder das Buch?« ist genauso sinnfrei wie »Bevorzugst du das Porzellan oder die Torte darauf?« Mit Rudolf Broby-Johansen (»Kunst und Umwelt«, 1943) können wir die Dialektik der Widerspieglung des Realen in der Kunst so wiedergeben: »Als die Landschaftsmalerei (…) einen Durchbruch erzielte, blieb sie dennoch eine Atelierkunst.«

Ja, mit dieser »Atelierkunst« von Qualität kann man Massen gewinnen. Das klappt, wenn es im Zuschauer tüchtig zerrt, wenn die richtigen Fragen gestellt werden. Nebenbei bemerkt, GoT wurde vor Corona, vor dem Ukraine-Krieg und vor dem Völkermord in Gaza abgedreht. Was haben diese Einschnitte der letzten sechs Jahre angerichtet, und warum fragen wir in diesem Zusammenhang nach dieser Serie? Zuerst: Der allgemeine Rahmen der Serie gilt seit Jahrtausenden. GoT begleitet allzu mächtige Herrschaftshäuser. Wir beobachten die Großen in deren dauernden Kämpfen um die Macht. Wir erleben, wie ständig die Hierarchie des Reiches umgestaltet wird. Dafür werden Bündnisse geschmiedet, Kriege geführt, Könige werden ermordet und neue Herrscher eingesetzt. Bis dahin bekanntes Terrain, wenn wir die alte und neuere Geschichte vor Augen haben.

Aber das Reich der Serie hat einige Besonderheiten. Die Natur tritt in unerbittlicher Form auf, denn Jahreszeiten dauern mehrere Jahre oder Jahrzehnte an, was keiner vorhersagen kann. Und nun droht der Winter. Viel Dramatik schinden die verschiedenen Handlungsparteien aus ihrer phantasievollen Auslegung der individuellen wie ministerialen Staatsräson. Hat da jemand Staatsräson gesagt? Diese Kämpfe sind natürlich allein die Kämpfe der Schönen und Reichen, die dramaturgisch geschickt aus der Täter- in die Opferrolle wechseln und wieder zurück. Das »Volk« spielt dabei seine Nebenrolle, es sind Sklaven, Krieger, Bauern, Kleingewerbliche oder gesetzlose »Wildlinge«. Diese Nebenrolle wird gern bildmächtig hingemetzelt. In Dörfern und Städten stirbt man wahlweise im feindlichen Pfeilregen oder durch Feuersbrünste aus der Luft (Drachen!).

Von außerhalb droht derweil eine Macht, die das Potential in sich trägt, das Reich zu ersticken. Sie will eine ewige Nacht und einen ewigen Winter – diese Allgewalt kann nur herrschen, wenn sie alles Lebendige aus dem Reich herausgeschält hat. Klingt ein wenig nach Negation der Negation, und das macht bei GoT auch den gewissen Unterschied aus: die Totalität der Krise, die Totalität des Krieges und dazu der drohende Untergang der Zivilisation. Damit ist diese Serie eine prächtige Widerspiegelungsparabel des heutigen Weltzustandes. Bei jeder Abblende quillt uns blut- und farbenfroh unsere Gegenwart vom Bildschirm auf den Wohnzimmerboden. Alles weist auf den Istzustand unserer Welt, also seiner Herrscher hin, die schon lange nicht mehr in der Lage sind, sich wie ein Baron von Münchhausen am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen. Alle bisher aufgeschriebenen, vertonten oder inszenierten Weltuntergangsszenarien sind ausschließlich Produkte der Moderne, was mit den Erfahrungen zweier Weltkriege nebst dem Einsatz von Atomwaffen und was nachfolgend an Katastrophen geschah, gut zu erklären ist.

Wenn wir hier von Produkten sprechen, dann meinen wir einerseits die kapitalistische Verwertungsmaschine und andererseits die kreativ-künstlerische Durchdringung der Erzählung. Die biblische Flut, die nordische Götterdämmerung oder die verschiedenen Apokalypsen der Religionen zählen wir, den Stand der Entwicklung der Produktivkräfte im Auge behaltend, nicht zu dieser Waren- und Kunstproduktion, obgleich auch sie materialistische Hintergründe der damaligen Zeit verarbeitet haben dürften und etliche Texte sicher auch bezahlte Auftragsarbeiten waren.

Was die künstlerischen Aussagen aller Geschichten insgesamt trennt, ist ihr Verhältnis zum Irrationalismus. Um diesen begrifflich wie anschaulich zu identifizieren, lesen wir ein paar Zeilen von dessen Altmeister Oswald Spengler (1880–1936). Dieser war sicher, »dass die bewegenden Mächte der Zukunft keine anderen sind als die der Vergangenheit: der Wille des Stärkeren, die gesunden Instinkte, die Rasse, der Wille zu Besitz und Macht: und darüber hin schwanken wirkungslos die Träume, die immer Träume bleiben werden: Gerechtigkeit, Glück und Friede.«

Damit sind wir bei der drängendsten Frage der Jetztzeit. Der Friedensfrage. Diese existiert bei GoT nicht, weil sie ahistorisch wäre. Anders: Das Wort »Frieden« impliziert den »Krieg«, sie kleben aneinander. Aber den wenigsten ist klar, dass die Friedensfrage in der bürgerlichen Gesellschaft eng an die sozialistische Revolution gebunden ist. Der ewige Frieden setzt das »letzte Gefecht« voraus. Aber welche Form hat dieses Gefecht, und dringender, welchen Inhalt?

Niemand wird bestreiten, dass ein weiterer Weltkrieg die menschliche Zivilisation an ihr Ende brächte. Doch stimmt das überhaupt? Weltkrieg Nr. 1 und Nr. 2 hatten seltsam identische Ausgänge. Erstens: den Roten Oktober und die SU. Zweitens: das sozialistische Weltsystem. In der Folge hatten wir über viele Jahrzehnte eine funktionierende »Abschreckung« und ein aushaltbares »Gleichgewicht«, wenigstens zwischen den Supermächten. Die gigantische Hochrüstung nach dem Zweiten Weltkrieg führte tatsächlich zum Kriegfrieden, zum Patt. Frieden durch eine unfassbare Ansammlung von Todesmaschinen? Geht doch, könnten wir sagen. Nein, können wir nicht! Schauen wir genauer hin. Der einstige Westblock ist der von heute, ein Zombieimperialismus auf der Jagd nach den letzten Profiten und deshalb knietief in seiner Systemkrise, d. h. sinkende Profitraten, Zins-, Inflations- und Schuldenkrise, Massenarbeitslosigkeit, und darüber hinaus regionale Kriege, Fluchtwellen, Hunger, soziales Elend in den abhängigen Ländern des globalen Südens.

Der sozialistische Block war spätestens in der zweiten Hälfte der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts ökonomisch totgerüstet, also de facto besiegt, was bedeutete, dass unsere militärische Stärke einerseits den Weltfrieden erkaufte, andererseits das Fundament unserer politischen Ökonomie ruinierte. Mit Mangel, Stillstand und Perspektivlosigkeit blickten wir tief ins Kanonenrohr unserer Feinde. Gegen den aufgetürmten Reichtum der westlichen Industrienationen, die mit Not, Tod und Krieg immer schon die besten Geschäfte machten und sich damit gegen die fundamentalen Interessen der großen Mehrheit der Menschheit stellten, konnten wir nicht mithalten. Wir ersoffen förmlich im Irrationalismus einer menschenverachtenden Todesmaschine, die hochteilige Arbeit, Wissenschaft und eine grandiose Produktivkraftentwicklung dazu nutzte, wie Dagobert Duck in Gold zu schwimmen, während acht Zehntel der Menschheit nicht viel oder gar nichts haben, was einem menschenwürdigen Leben ähnlich sieht.

Hier schließt sich der Kreis. Die Widerspiegelung der objektiven Realität mit den Mitteln einer nichtkapitalistischen oder frühsozialistischen Produktionsweise führte uns im Osten zu einem tiefen Rationalismus, fokussiert auf Frieden, soziale Gleichheit und menschliche Arbeitswelt. Nix schön, nix reich, »Sozialistischer Realismus« eben. Allein dieser Punkt kann das Phänomen der angeblich funktionierenden »Abschreckung« und das »Gleichgewicht« der Systeme erklären. Die Konkurrenz zwischen Ost und West war zuletzt auch der Kampf Irrationalismus gegen Rationalismus. Die Sowjetunion (und ihre Partner), angefangen mit der Diplomatie der offenen Arme, über die bahnbrechenden Erfolge in Raumfahrt und Waffentechnik und dem Enthusiasmus der Anfangszeit – all das war bei Beachtung der rationalen Interessenlage der arbeitenden Menschen der alleinige Grund für den teuer erkauften Weltfrieden, für das Überleben der Spezies. Das ist der eigentliche Sieg des damaligen Sozialismus.

Die heutige Tragik besteht darin, dass uns dieses Mittel gegen den kommenden Krieg abhandengekommen ist, sogar der Nachhall des Sozialismus ist verklungen. Zweifelt jemand, dass der Weltkrieg kommen wird? Oder sagen wir es mit GoT: »Der Winter naht.« Ja, wir meinen den großen, den totalen, den vielleicht letzten Krieg. »Der Krieg (Kampf) ist der Vater aller Dinge und der König aller«, meinte Heraklit (um 520 v. u. Z.). Wir wissen, dass das einigermaßen stimmt, weil wir wissen, was Carl von Clausewitz (1780–1831) wusste: »Der Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln.« Darüber hinaus wissen wir zusätzlich von Marx: »Die Revolutionen sind die Lokomotiven der Geschichte.«

Diese Revolutionen entstehen auch aufgrund der sozialen und ökonomischen Miseren der Kriege. War 1917 in Russland nicht ein schönes Jahr? Oder 1918 in Deutschland. Oder 1945 … ja, wir rechnen uns auch die kräftige Unterstützung der kolonialen Befreiungsbewegungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts an. Wenn es schon den großen Krieg geben wird, warum sollten wir ihn nicht nutzen, um die Frage des Friedens und des Krieges dialektisch zu lösen? Wir schaffen beides ab.

Eine starke Arbeiterbewegung könnte den Krieg freilich abwenden, so wie damals der sozialistische Block verhinderte, dass sich der »Kalte Krieg« zum Armageddon auswuchs. Aber wir haben in Deutschland (noch) keine solche Bewegung. Wir blicken statt dessen tagtäglich auf den politischen Kothaufen des deutschen Imperialismus – und seines Irrationalismus, der den Weg in den Weltkrieg pflastert. Bei GoT wissen alle Parteien, dass es am Ende aller Fehden nur einen Sieger geben darf. Deshalb rechnen sie miteinander, gehen alle Zahlen gründlich durch. Aber bei all ihren Rechnungen fehlt wie heute eine konstante Variable: das Volk. All jene, die kein Interesse am Krieg haben, der für sie nur Not und Tod bedeutet. Nur das Volk ist in der Lage, zur Marxschen »Lokomotive der Geschichte« zu werden.

Mit dem nächsten Weltkrieg bieten sich zwei Szenarien: der Untergang der Menschheit, oder wir transformieren den Krieg wie schon 1917, 1918 und 1945 in die sozialistische Revolution. »Sozialismus oder Barbarei« war nicht bloß eine Losung Luxemburgs, sondern Misere und Mission des Sozialismus. Die Frage des Krieges wird unsere Zukunft sein. Wir wissen, dass der Kapitalismus nicht friedensfähig ist. Oder hoffen wir immer noch heimlich auf dessen Vernunft?

Der Weltkrieg ist Bestandteil der bürgerlichen Ordnung, er ist immer die kurzfristige Lösung des Gordischen Knotens in der Endkrise des Imperialismus. Naturwüchsig. Wir dürfen das ausnutzen. Unsere TV-Serie konnte auch deshalb kein gutes Ende finden, weil sie einerseits mit ihrem mittelalterlichen Setting den wahren Krieg noch vor sich hat und weil sie andererseits mit den Mitteln der bürgerlichen Kunst die Frage des Krieges und des Friedens nicht beantworten kann. Es fehlt schlicht der Zugang zur Frage.

Hagen Bonn, Jahrgang 1968, ist Sozialfachwirt und lebt in Berlin. Er schreibt regelmäßig im Feuilleton dieser Zeitung. Zuletzt erschien von ihm an dieser Stelle über die letzten Lebensjahre des Magisters Thomas Müntzer »Wider die rechte Ordnung«

75 für 75

Mit der Tageszeitung junge Welt täglich bestens mit marxistisch orientierter Lektüre ausgerüstet – für die Liegewiese im Stadtbad oder den Besuch im Eiscafé um die Ecke. Unser sommerliches Angebot für Sie: 75 Ausgaben der Tageszeitung junge Welt für 75 Euro.

 

links & bündig gegen rechte Bünde

Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.

Mehr aus: Wochenendbeilage

                                                                 Aktionsabo: 75 Ausgaben für 75 Euro