Westeuropa destabilisieren
Von Arnold Schölzel
In einem Gastbeitrag für die Berliner Zeitung rechnet August Pradetto, emeritierter Professor für Internationale Politik an der Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg, am Freitag vernichtend mit der Aufrüstungspolitik der europäischen NATO-Staaten ab. Anlass für den Artikel unter dem Titel »Gefährlicher Kurs« ist der NATO-Gipfel am kommenden Dienstag und Mittwoch in Den Haag. In dessen Abschlusskommuniqué, so Pradetto, werde Russland aufgrund des Widerstands der US-Regierung »nicht einmal eindeutig« als Aggressor benannt. Dennoch fordere die Trump-Administration von den NATO-Staaten »Verteidigungsausgaben in Höhe von fünf Prozent«, also »fast das Dreifache des bisherigen Budgets«.
Das ist nach Pradetto Ausdruck der Machtverhältnisse in der NATO, die er für deren europäische Mitglieder als »strukturelle Abhängigkeit von den USA« in der Sicherheitspolitik charakterisiert. Pradetto: »Diese hat nicht nur zu einer teuren und letztlich wenig effektiven Reaktion auf die sich anbahnende Krise und dann den Krieg in der Ukraine geführt, sondern gefährdet auch die politische und wirtschaftliche Stabilität des Kontinents.« Mit der Rückkehr Trumps »dürfte sich diese Abhängigkeit sogar noch vertiefen«.
Allerdings sei unter ihm der Spielraum weiter geschrumpft. Bis zu Trumps zweiter Amtszeit »wollten die Europäer kein ›Einfrieren‹ und mit Russland nur aus einer ›Position der Stärke‹ heraus verhandeln. Jetzt verlangen sie einen ›bedingungslosen Waffenstillstand‹ und tun alles, damit Trump sich nicht zurückzieht und Druck auf Russland aufbaut.« Pradettos Fazit: »Die westliche Außenpolitik, die sämtliche Warnzeichen ignorierte, war keine Realpolitik, sondern ein Ausblenden der Realität aus moralischer Überzeugung und machtpolitischer Selbstüberschätzung.« Dazu lässt sich sagen: Vor allem der Begriff »machtpolitische Selbstüberschätzung« gegenüber Russland ist kurz vor dem Jahrestag des 22. Juni 1941, des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion, besonders angebracht.
Pradetto begründet seine These vom Realitätsverlust zum einen mit militärischen Tatsachen: Der Krieg Russlands habe nicht nur »wesentliche Teile der Ukraine, sondern auch den Kern seiner eigenen Streitkräfte zerstört«. Moskau werde »viel Zeit brauchen, um auch nur die eigene Verteidigungsfähigkeit auf seinem gigantischen Territorium wiederherzustellen«. Zum anderen führt er wirtschaftliche Tatsachen an: »Russlands wirtschaftlicher Output ist vergleichbar mit dem Italiens. Die Länder, die das westliche Militärbündnis bilden, verfügen hingegen über die bei weitem größte Wirtschaftskraft der Welt« – 41 Billionen Euro gegen zwei Billionen Euro. Die NATO gebe »seit Jahren mehr für Rüstung aus als der gesamte Rest der Welt zusammen«.
Die Aussichten für die NATO-Europäer sieht Pradetto folgerichtig düster: »Europa versäumt es nicht nur, die Zukunft aktiv zu gestalten – es trägt sogar dazu bei, sie zu militarisieren und zu destabilisieren.« Er rechnet vor: Von den 27 EU-Staaten sind vier nicht in der NATO (Österreich, Irland, Malta, Zypern). Zusammen mit dem NATO-Mitglied Türkei und anderen Nicht-EU-Mitgliedern, die Teil der Allianz sind (Großbritannien, Island, Norwegen, Albanien, Montenegro, Nordmazedonien) müssten die NATO-Europäer »über eine Billion Euro an Militärausgaben« aufbringen – »mehr, als die USA heute ausgeben«. Pradetto sagt voraus: »Noch bevor solche Zielmarken überhaupt erreicht würden, wäre die politische und soziale Stabilität in Europa massiv gefährdet.«
Das ist, lässt sich nach Lektüre seines Textes vermuten, ein Zweck der Trump-Forderung nach fünf Prozent für Rüstung.
Vor allem der Begriff »machtpolitische Selbstüberschätzung« gegenüber Russland ist kurz vor dem Jahrestag des 22. Juni 1941, des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion, besonders angebracht.
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