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Aus: Ausgabe vom 12.06.2025, Seite 6 / Ausland
Ukraine-Krieg

Unerwünschte Tote

Ukraine-Krieg: Leichname gefallener Soldaten verzögert ausgetauscht, Hunderte Gefangene übergeben. EU bereitet neue Russlandsanktionen vor
Von Reinhard Lauterbach
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Makabre Fracht: Vom russischen Verteidigungsministerium veröffentlichte Bilder der Lkws mit den Leichen Gefallener

Mit mehrtägiger Verzögerung hat an der russisch-ukrainischen Grenze der in Istanbul vereinbarte Austausch der Leichname gefallener Soldaten begonnen. Das gab der entsprechende ukrainische Koordinationsstab am Mittwoch bekannt. Die am 2. Juni im Rahmen der Waffenruheverhandlungen getroffene Vereinbarung verpflichtet beide Seiten zur Freilassung von mehr als tausend Gefangenen. Russland hatte bereits vor dem Wochenende Kühl-Lkw mit den mutmaßlichen Leichen von 1.212 gefallenen Ukrainern bereitgestellt. Kiew hatte jedoch zunächst die Abnahme der Toten verweigert und erklärt, es handle sich nicht um gefallene Ukrainer, sondern um russische Kriegsopfer. Später hieß es, der Austauschtermin sei nicht rechtzeitig bekanntgegeben worden.

Die ukrainische Führung reagiert nun vermutlich auf den öffentlichen Druck im eigenen Land, nachdem auf russischer Seite die Personalien und Todesorte der Gefallenen im Internet veröffentlicht wurden. Die meisten von ihnen sollen demnach im Zuge des ukrainischen Angriffs im Kursker Gebiet gefallen sein. Die Diskussion über den Leichenaustausch ist für Kiew aus weiteren Gründen unangenehm. Erstens wird damit das Thema der eigenen Verluste wieder aktuell, das von der Regierung systematisch unter der Decke gehalten wird. Zweitens wird mit der Übergabe eines Gefallenen die Zahlung einer Entschädigung für die Hinterbliebenen fällig. In der Summe ergibt sich bei 6.000 zur Übergabe vorgesehenen Toten eine Zahlungspflicht von 90 Milliarden Griwna (ca. zwei Milliarden Euro) – und das bei klammer Staatskasse.

Am Montag hatten Russland und die Ukraine jeweils Kriegsgefangene im Alter von unter 25 Jahren ausgetauscht, am Dienstag folgte der nächste Austausch Gefangener. Nach ukrainischen Angaben handelt es sich überwiegend um Soldaten mit chronischen Krankheiten und schweren Verletzungen. Einige seien bereits seit den Kämpfen um Mariupol im Frühjahr 2022 in russischer Gefangenschaft gewesen. Damit stellt sich die in Kiew nicht öffentlich diskutierte Frage, ob sich unter den Freigelassenen auch Angehörige des faschistischen »Asow«-Regiments befinden, das seinerzeit die Hauptlast der Kämpfe im Stahlwerk von Mariupol trug. Beim ersten der in Istanbul vereinbarten Austausche Ende Mai hatte sich Denis Prokopenko, Kommandeur der »Asow«-Brigade, beschwert, dass keine Angehörigen dieser Einheit freigelassen worden seien.

Unterdessen haben Russland und die USA angekündigt, dass sie die Gespräche über eine Normalisierung ihrer bilateralen Beziehungen von denen über ein Ende des Ukraine-Kriegs abtrennen wollen. In Moskau wurde bestätigt, dass schon bald eine erste Gesprächsrunde in der Stadt geplant sei. Dennoch sei bis zu einer Normalisierung »noch viel Arbeit zu leisten«, sagte Vizeaußenminister Sergej Rjabkow gegenüber TASS. Nach Rjabkows Worten besteht Russland darauf, dass die Osterweiterung der NATO gestoppt wird. Anders sei eine ­konstruktive Lösung des Krieges nicht möglich. Auch sei das russische Memorandum vom Dezember 2021 nach wie vor aktuell. Russland verlangt demnach nicht nur den Verzicht der westlichen Allianz auf weitere Erweiterungen, sondern auch, dass die bisher vorgenommenen Stationierungen von NATO-Truppen östlich der deutsch-polnischen Grenze zurückgenommen werden.

Weniger als einen Monat nach der Verabschiedung ihres 17. Sanktionspakets bereitet die EU-Kommission derweilen die 18. Verschärfung des Wirtschaftskriegs gegen Russland vor. Wie in Brüssel am Dienstag bekannt wurde, will sich die EU dafür einsetzen, einen Höchstpreis für russisches Öl von 45 US-Dollar pro Fass festzulegen, bei dessen Überschreitung Sanktionen gegen alle Staaten und Unternehmen greifen sollen, die mehr Geld dafür ausgeben. Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij forderte die EU auf, noch weiter zu gehen und den Preisdeckel auf 30 US-Dollar pro Fass zu senken. Aktuell beträgt er etwa das Doppelte dieser Summe. Doch die Slowakei hat bereits angekündigt, dass sie dem Sanktionspaket nur dann zustimmen werde, wenn ihr die EU-Kommission alternative Quellen für Öl, Gas und Kernbrennstoffe bereitstellt. Auch Ungarn widersetzt sich dem EU-Kurs: Die Regierung griff Kiew an, weil es eine ungarische Oppositionspartei namens »Tisa« unterstütze. Unter diesen Bedingungen werde Budapest einem EU-Beitritt der Ukraine nicht zustimmen.

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  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (13. Juni 2025 um 10:32 Uhr)
    Ergänzend zum Artikel: Die Entscheidung Russlands, bei den Verhandlungen in Istanbul neben dem Gefangenenaustausch auch den Austausch gefallener Soldaten zu vereinbaren, war ein geschickter propagandistischer Schachzug. Russland verfügt über deutlich mehr Leichname ukrainischer Soldaten als umgekehrt – zum einen aufgrund seines territorialen Vormarschs, zum anderen, weil dies den ukrainischen Darstellungen widerspricht, denen zufolge Russland wesentlich höhere Verluste erlitten habe. Ein Aspekt, der in der öffentlichen Debatte bislang weitgehend ausgeklammert wird, ist zudem die zunehmende Zahl ukrainischer Deserteure. Diese nimmt in den letzten Monaten stark zu und deutet auf eine wachsende Resignation und Hoffnungslosigkeit unter den ukrainischen Soldaten an der Front hin – ein Befund, der das offizielle Selbstbild der Ukraine zusätzlich infrage stellt.

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