Schützende Präsenz
Von John McAulay
Obwohl Haifa eine der größten Städte Israels ist, überrascht es nicht, dass es zu dieser späten Stunde so ruhig ist. Das normalerweise geschäftige Industriegebiet, in dem sich einer der wichtigsten Seehäfen des Mittelmeers befindet, ist in eine fast unnatürliche Stille gehüllt. Um vier Uhr morgens ist das leise Summen der Stromleitungen das einzige konstante Geräusch, während die Straßenlaternen ein mattes orangefarbenes Licht auf die leeren Grundstücke und Lagerhäuser werfen. Ich stapfe durch die Straßen und schaue alle paar Minuten nervös auf die Karte auf meinem Telefon.
Sich in einer fremden Stadt zurechtzufinden ist schon schwierig genug, aber in Haifa ist es noch komplizierter. Die Stadt liegt im Norden Israels etwa 20 Meilen von der libanesischen Grenze entfernt und ist seit dem 7. Oktober 2023 häufig Ziel von Raketenangriffen der Hisbollah. Israel hat ein GPS-Spoofing eingeführt, also das Aussenden von Störsignalen zur Abwehr feindlicher Raketen oder Drohnen. Dadurch zeigen Apps wie Google Maps falsche Standorte an, so dass ich mich unerklärlicherweise im benachbarten Jordanien befinden soll. Da ich meine Position nicht genau verfolgen kann, verpasse ich meine Bushaltestelle. Ich schaffe es gerade noch rechtzeitig zum Abholpunkt.
Ein kleines Auto hält auf einem Rastplatz am Stadtrand. Das Beifahrerfenster wird heruntergekurbelt und zeigt zwei freundliche, sanfte Gesichter, die mich anstarren. Ich steige ein, und wir machen uns auf den Weg über ruhige Straßen im Norden Israels. Auf halber Strecke halten wir an einer leeren Tankstelle an, um einen anderen Aktivisten aufzunehmen und das Auto zu wechseln. Dieses zweite Fahrzeug, ein heruntergekommener, aber praktischer Geländewagen, wurde der Organisation gespendet. »Im Kofferraum befinden sich Lebensmittel, die wir den Palästinensern geben werden, damit sie für uns kochen können«, erklärt einer von ihnen. »Die Sachen stehen schon den ganzen Tag in der Sonne, aber wir hoffen, dass sie gut sind.«
Jeden zweiten Sonntag
Wir brechen wieder auf. Draußen klärt sich der Himmel und gibt den Blick auf die sich verändernde Landschaft frei: Die steilen Berge des Jordantals sind jetzt sichtbar. Nach etwas mehr als einer Stunde Fahrt zeigt einer der Aktivisten nach vorne: »Da ist es.« Ein Kontrollpunkt taucht auf, aber die Soldaten winken uns durch, ohne sich groß für uns zu interessieren. »Israelisches Nummernschild«, bemerkt der Fahrer beiläufig. Wir erreichen die besetzte Westbank, als die Sonne gerade über dem jordanischen Hochland aufgeht.
Für David und Neomi ist es eine regelmäßige Fahrt. »Wir kommen alle zwei Wochen hierher, das ist eine feste Einrichtung«, erklärt Neomi, als wir in der Nähe der kleinen palästinensischen Gemeinde Al-Farisija parken. Seit zwei Jahren verlassen die beiden, ein Paar in den Sechzigern, an jeden zweiten Sonntag ihr komfortables Leben in Haifa, wo sie im akademischen Bereich arbeiten. Dann machen sie sich vor Sonnenaufgang im Namen ihrer Organisation Jordan Valley Activists auf den Weg. »Als wir einmal angefangen hatten, haben wir nie wieder zurückgeblickt.«
David und Neomi gehören zu einer relativ kleinen Gruppe israelischer Bürger, die beschlossen haben, gegen die Besetzung und systematische Unterdrückung im Westjordanland vorzugehen. Da sowohl die Regierung als auch die extremistischen Siedler den Druck auf die palästinensischen Gemeinden im Westjordanland verstärkt haben, hat sich eine wachsende – wenn auch immer noch begrenzte – Zahl von Israelis von dem im Land vorherrschenden Gefühl der Gleichgültigkeit verabschiedet. Der Hauptteil ihrer Arbeit besteht in dem, was sie als »schützende Präsenz« bezeichnen, wobei schon die bloße Begleitung von Palästinensern Anschläge verhindern und Probleme mit den Behörden vermeiden kann.

Das Jordantal ist eines der Gebiete, die derzeit am stärksten unter israelischem Beschuss stehen. Premierminister Benjamin Netanjahu und mehrere Kabinettsmitglieder haben wiederholt die Annexion des Tals gefordert, und die Rückkehr von Donald Trump ins Weiße Haus hat die Bedenken noch verstärkt. Die rund 60.000 Palästinenser, die in der Region ihr Zuhause haben, erleben derzeit eine Vertreibungswelle, befeuert von Schikanen der Siedler und militärischem Druck. Berichten zufolge wurden in weniger als zwei Jahren etwa 100 Quadratkilometer Land im Jordantal »aufgrund der israelischen Politik und der Siedlergewalt fast vollständig von den Palästinensern geräumt, die dort jahrzehntelang lebten«.
Die Organisation von David und Neomi konzentriert sich auf die Unterstützung palästinensischer Hirtengemeinschaften, die häufig Ziel von Extremisten sind. »All diese NGOs kommen und gehen, aber als wir hier waren, hatten wir das Gefühl, dass diese Organisation effizienter ist als andere«, erklärt Neomi. Das Ehepaar nimmt immer noch an Protesten gegen die israelische Politik teil, glaubt aber, dass seine Arbeit vor Ort eine größere Wirkung entfaltet. »Man hat wirklich das Gefühl, dass man die Besetzung physisch stoppt.«
Tägliche Schikane
In Ras Ein Al-Auja, weiter südlich im Jordantal und nur wenige Kilometer von der Stadt Jericho entfernt, sieht die Realität nicht viel anders aus. Die meisten Bewohner dieser palästinensischen Gemeinde betreiben Schafzucht. In den vergangenen Jahren sind die nahe gelegenen israelischen Siedlungen erweitert worden, und häufig kommen Extremisten und schikanieren die Einwohner.
Andrej ist hier, um das zu dokumentieren. Er ist unabhängiger Journalist und Aktivist der israelischen Organisation Looking the Occupation in the Eye (Der Besetzung ins Auge schauen) und hat die Nacht im Basislager der Gruppe in Ras Ein Al-Auja verbracht, zusammen mit Thea und Estee, zwei Kolleginnen aus Tel Aviv. Nach einem frühen Frühstück, das Gastgeber Mohammed zur Verfügung gestellt hat, brechen wir genau in dem Moment auf, als die Sonne beginnt, die karge Landschaft zu färben.
Eine kurze Fahrt führt uns an den Rand des weitläufigen Dorfes, wo wir an einem Kanal anhalten, der mit großen Steinen zugeschüttet ist. »Es ist an der Tagesordnung, den Palästinensern den Zugang zu ihren Wasserquellen zu versperren«, erklärt Andrej und fügt hinzu, dass die Siedler auch dafür bekannt sind, Rohre zu kappen, die vom Bach nach Ras Ein Al-Auja führen. »Dies war einer der letzten Orte im Westjordanland, an denen die Palästinenser ungehindert Zugang zu Wasser hatten. Die meisten anderen sind von Siedlern übernommen worden, und nun auch dieser.«
Nachdem wir den Kanal freigeräumt haben, gehen wir zurück in Richtung des Dorfes. Entlang der Straße sind zwei israelische Extremisten aufgetaucht, die ihre Kamele auf palästinensischem Privatland weiden lassen, nur wenige Meter von den Häusern des Dorfes entfernt. Sie hören auch nicht damit auf, obwohl sie von den Aktivisten zur Rede gestellt und die Behörden verständigt werden. Die israelische Polizei und das Militär tauchen dreimal auf, lassen aber zu, dass die Siedler die Gemeinde weiter schikanieren. Die einzigen, deren Ausweise kontrolliert werden, sind die Aktivisten. Thea ist nicht überrascht. »Das ist das Übliche. Vor ein paar Tagen hat ein Siedler einen Stein auf einen Schulbus geworfen, in dem Kinder saßen, und es ist nichts passiert.« Andrej nickt. »All das ist Teil des zunehmenden Drucks auf dieses Gebiet, um die Menschen aus dem Dorf zu vertreiben«, fügt er hinzu.

Andrej veröffentlicht seit fast einem Jahr in den sozialen Netzwerken Informationen aus Ras Ein Al-Auja und anderen bedrohten Gebieten im Westjordanland. Unter dem Pseudonym Andrey X hat er schnell eine große Fangemeinde um sich geschart. Er gründete sein Tik-Tok-Konto im Juni 2024 und hat derzeit fast 110.000 Follower sowie eine ähnliche Anzahl auf Instagram und weitere 40.000 auf X. »Ich glaube, in den letzten Monaten haben etwa 50 Millionen Menschen mein Gesicht gesehen«, sagt er mit einem Grinsen.
Andere Israelis überzeugen
Auf seinen Kanälen dokumentiert Andrej die täglichen Mühen der Palästinenser, die Angriffe der Siedler und die israelischen Militäroperationen bis hin zu Landnahmen und rechtlichen Schwierigkeiten. »Es passiert hier eine Menge, aber es wird nicht annähernd genug darüber berichtet«, beklagt Andrej. Und während er versteht, dass die Berichterstattung über Israels Krieg im Gazastreifen »zu Recht« die Aufmerksamkeit der weltweiten Medien in Anspruch nimmt, glaubt er, dass über das Westjordanland zuwenig berichtet wird. »Ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, das zu ändern«, erklärt er seinen Antrieb.
Der in Russland geborene und aufgewachsene Andrej arbeitete als politischer Journalist für oppositionelle Medien, bevor er zu Beginn des Krieges in der Ukraine floh. Aufgrund seiner jüdischen Abstammung konnte er sich einen israelischen Pass besorgen und zog Anfang 2022 in das Land. »Anfangs wusste ich nicht viel über das, was hier passierte«, gibt er zu. Aber er beschloss, sich durch Lesen und Gespräche mit Menschen auf beiden Seiten über den Konflikt zu informieren. »Es dauerte etwa sechs Monate, bis ich merkte, dass mir nicht gefiel, was da vor sich ging«, erzählt er. Andrej wurde bald politisch aktiv und ging regelmäßig ins Westjordanland, um die Palästinenser zu unterstützen. »Dann verging ein Monat, dann wieder einer … Und dann habe ich einfach angefangen, das in Vollzeit zu machen.«
Er hofft, mit seinen Berichten das internationale Bewusstsein für die Probleme der Palästinenser zu schärfen und andere zu ermutigen, den gleichen Weg wie er einzuschlagen. »Ständig kommen Leute zu mir und sagen, dass sie meine Videos an ihre Familie schicken, um sie zu überzeugen«, erklärt er stolz. »Es gibt definitiv Leute, die durch unsere Outreachprogramme zu Aktivisten geworden sind, durch das, woran meine Kollegen und ich gearbeitet haben, um mehr Aktivisten mit israelischem Pass hierher zu bringen.«
Dennoch ist er unsicher, wieviel Einfluss sie haben können. Selbst wenn sich mehr Israelis engagieren, glaubt Andrej, dass der Schlüssel darin liegt, die Unterstützung für Israel aus dem Ausland zu verringern. »Ich mache mir keine Illusionen, wenn es darum geht, Zionisten davon zu überzeugen, keine Zionisten mehr zu sein«, meint er. »Und ich glaube nicht, dass dieser Konflikt auf diese Weise gelöst werden kann. Er wird nur durch internationalen Druck gelöst werden, indem man die Zufuhr von unendlich viel Geld für die Besetzung und den Völkermord abschneidet.«
Im Norden, in Al-Farisija, sitzen David und Neomi, die Gesichter unter ihren Hüten verborgen, im Schatten eines dornigen Busches. In den ausgedörrten Hügeln des Jordantals darf man nicht wählerisch sein: Jeder Schutz vor der brennenden Mittagssonne ist willkommen. In einiger Entfernung wippt Ahmed auf seinem Esel. Dutzende von Schafen streifen umher und knabbern an den Sträuchern, die zaghaft zwischen Rissen im trockenen Boden wachsen. Das Ehepaar hält Ausschau und sucht die Landschaft nach Bewegungen ab. Aber heute ist ein Glückstag: Es scheinen keine Extremisten in der Nähe zu sein.
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