»Jede Art abweichender Meinung wird als Terrorismus denunziert«
Interview: Jörg Zimmermann, Islamabad
Das Titelbild Ihres Buches »Der Kampf um die Hegemonie in Pakistan« zeigt einen einsamen Fischer in einem Boot auf einem großen Fluss. Beginnen wir also mit dem Indus und den Konflikten um sein Wasser.
Schon vor dem gezielten Mordanschlag in Kaschmir am 22. April, der für die folgenden Spannungen zwischen Indien und Pakistan sorgte, war der Indus bereits seit etwa zwei Monaten in den Nachrichten, weil eine große Zahl von Menschen in der Provinz Sindh gegen die Pläne der Regierung protestierte, flussaufwärts neue Kanäle zu bauen. Der Indus und seine Zuflüsse werden seit mindestens 120 Jahren aufgestaut, seit die Briten das heute noch größte zusammenhängende Bewässerungssystem der Welt geschaffen haben. Das hat dazu geführt, dass flussabwärts, insbesondere in der Deltaregion, viele Fischergemeinschaften praktisch ausgelöscht wurden. Ganze Ökosysteme, ganze Lebensweisen und Lebensgrundlagen wurden zerstört, weil nicht mehr genügend Wasser ins Meer fließt. Beim Indus geht es nicht nur um den Konflikt zwischen Indien und Pakistan, sondern auch um das Entwicklungsregime in beiden Staaten. Rosa Luxemburg schrieb vor mehr als 100 Jahren über den unersättlichen Appetit des Kapitalismus zu expandieren und sich die natürliche Wirtschaft zu unterwerfen. Das Kapital braucht ein Außen für Ressourcen und um neue Verbrauchermärkte zu schaffen. Das macht die imperialistische Form des Kapitals aus. Auf der politischen Ebene ergibt sich daraus ein Kampf zwischen Staaten mit ihrem Militarismus und der Zerstörung der Ökosysteme. Die nationalistische Propaganda besagt, das andere Land nimmt uns unseren Fluss weg. Die Konfliktursachen liegt allerdings in der skizzierten Entwicklungsweise in all diesen Ländern, besonders natürlich im Westen.
Warum kam es kurz nach der Aussetzung des Indus-Wasservertrags durch die indische Regierung zu einer mehrtägigen militärischen Konfrontation zwischen Pakistan und Indien?
Die militärische Konfrontation nach der Aussetzung des Vertrags ist nicht die erste ihrer Art. Pakistan und Indien haben drei ausgewachsene Kriege geführt und liefern sich regelmäßig Scharmützel, vor allem an der Waffenstillstandslinie in Kaschmir, der sogenannten Line of Control. Der offizielle Nationalismus in Pakistans war immer ausgeprägt antiindisch, und mit dem Aufstieg der Hindutva in Indien hat sich auch dort eine antipakistanische Agenda herausgebildet. Dieses Mal gab es auf beiden Seiten eine noch nie dagewesene Anzahl von Menschen, die nach Blut schrien, insbesondere im Internet. Natürlich ist Indien ein viel größeres Land, so dass der Widerhall dort größer war, aber auch die Pakistaner wurden vom nationalistischen Eifer erfasst. Beide Staaten schürten also Kriegshysterie und reagierten dann auf die Auge-um-Auge-Stimmung im Netz. Eine Garantie dafür, dass diese Dynamik gestoppt wird, gibt es nicht. Wie in der Vergangenheit wird die Kaschmirfrage, die die Konfrontation überhaupt erst ausgelöst hatte, fast irrelevant, und als beide Seiten schließlich einem Waffenstillstand zustimmten, nahm die Intensität des grenzüberschreitenden Beschusses an der Line of Control sogar noch zu.
Das Hauptthema Ihres Buches ist die Frage nach der gesellschaftlichen Hegemonie in Pakistan. Wer sind die einflussreichsten und mächtigsten gesellschaftlichen Kräfte?

Viele dürften wissen, dass die mächtigste Kraft in Pakistan die Armee ist. Sie ist nicht nur eine staatliche Institution, sondern auch eine soziale Kraft, denn in den vergangenen 75 bis 80 Jahren war ein großer Teil der Gesellschaft, zwar nicht die Mehrheit, aber doch eine beträchtliche Anzahl von Menschen – über Generationen hinweg – in und bei der Armee beschäftigt. Das Militär betreibt auch eine Reihe von Unternehmen, in denen viele Menschen arbeiten. Und ganz allgemein hat die Armee das Land während der Jahre des Kriegsrechts direkt regiert. Pakistans Staatsideologie ist sehr militaristisch. Sie basiert auf der Idee, dass der Islam die einigende Kraft, aber immerzu bedroht, die Armee dagegen diejenige sei, die uns immer wieder rettet. Die Stellung der Armee war während der meisten Zeit nicht unangefochten, aber entmachtet wurde sie nie. Vor allem in der Peripherie wurde sie immer wieder herausgefordert, in Belutschistan, vor längerer Zeit in Ostpakistan, das heute Bangladesch heißt, in den Provinzen Sindh und Pakhtunkhwa. Historisch gesehen genoss die Armee nur im Punjab immer eine große Legitimität. Die sozialen Kräfte, die die Armee stützen, sind ländliche Großgrundbesitzer, eine kapitalistische Klasse mit Schwerpunkten im Handel und einer sehr rudimentären Industrie zur Verarbeitung landwirtschaftlicher Produkte. In jüngerer Zeit sind große Immobilienentwickler sehr mächtig geworden. Und dann ist da noch die religiöse Rechte. Aufgrund der dominanten Rolle des Islams war sie in Politik und Gesellschaft immer stark vertreten. Von außen gestützt wurden diese Binnenverhältnisse von den Vereinigten Staaten. Pakistan vertrat während des Kalten Krieges eine dezidiert antikommunistische Haltung. Nach 2001 war das Land dann Teil des US-amerikanischen »Krieges gegen den Terror« in Afghanistan. Insgesamt sprechen wir von einem sehr komplexen Machtgefüge, das sich um die Armee herum aufgebaut hat, das dann von den westlichen Mächten, in jüngerer Zeit auch von China und den arabischen Golfstaaten unterstützt wird. Nach meiner Einschätzung erodiert aber diese Hegemonie, weil die junge Generation das herrschende Narrativ immer weniger für bare Münze nimmt, das Narrativ, wonach Pakistan immer bedroht ist, dass wir uns keine Demokratie leisten können, dass wir eine starke Armee brauchen, dass ein großer Teil des Haushalts an die Armee gehen muss.
Das führt uns zur Dialektik von Angst und Verlangen, die Sie in den Mittelpunkt Ihrer Analyse stellen und die auch für die europäische Linke sehr anregend sein könnte. Welcher theoretische Ansatz steht dahinter? Wie äußert sich diese Dialektik im heutigen Pakistan?
Theoretisch stütze ich mich auf Antonio Gramsci und dessen Hegemoniebegriff. Vereinfacht dargestellt, basiert Gramscis Konzept auf der Dialektik von Zwang und Zustimmung innerhalb von Machtstrukturen. Angst und Verlangen sind die zwei Seiten dieser Medaille. Der Zwang, den die Armee ausüben kann und auch ausübt, erzeugt Angst. Und Angst, nämlich vor anderen – von außen oder von »Verrätern« –, wird auch geschürt. Diese Staatspraxis, die immer schon funktioniert hat, kommt seit dem »Krieg gegen den Terror« noch stärker zum Einsatz. Jede Art von abweichender Meinung kann einfach als »Terrorismus« bezeichnet werden. Vor allem Progressive werden ständig als »Terroristen« abgestempelt. Der andere Teil, Verlangen beziehungsweise Zustimmung, beruht auf einem Versprechen. Wer dem Staat die Treue hält und den anderen denunziert, dem soll ein besseres Leben winken. Es geht um den Wunsch nach dauerhaftem Konsum, einem Grundstück in einer bewachten Wohnanlage, einem Geländewagen oder einem sicheren Vorstadtleben. Vieles davon ist natürlich nur heiße Luft. Es wird nie passieren. Solche Versprechen begründen eine nur brüchige Hegemonie, eben weil eine große Zahl von Menschen sich diese Konsumwünsche nicht erfüllen kann. Das wirft sie zurück auf Angst und Hass gegen den angeblich Verantwortlichen für das eigene Elend. Dabei ist die Möglichkeit der sozialen Mobilität in den Randgebieten viel beschränkter, sind die Mittel des Zwangs viel stärker ausgeprägt. Aber im Punjab hat die hegemoniale Ideologie immer feste Wurzeln gehabt.
Ihr Plädoyer für ein »klassenloses Subjekt« zur Veränderung der pakistanischen Gesellschaft wird von Ihnen selbst als »höchst provokant« bezeichnet. Was ist der Hintergrund dieser Provokation und worauf zielen Sie ab?
Marxistische Ansätze wurden nach Ende des Kalten Kriegs nicht mehr diskutiert, wir erlebten den Aufstieg der Identitätspolitik. Klasse wurde als zweitrangig behandelt. Wir sollten uns aber wieder viel stärker mit dem Klassenbegriff beschäftigen. Die Klassen sind eine gesellschaftliche Realität. Gleichzeitig gibt es alle Arten von politischen Subjekten, die etwa gegen die geschlechtsspezifische Unterdrückung oder gegen ethnische Vorherrschaft kämpfen. Aber was bringt diese Kämpfe zusammen? Welche Kraft vereint all diese Strömungen? Dieses vereinte kollektive Subjekt nenne ich das »klassenlose Subjekt«. Denn der einzige sinnvolle Horizont ist für mich immer noch eine Gesellschaft, in der die Klassenspaltung aufgehoben ist. Dann lässt sich angemessen leben, kann jeder seine Individualität, seine ganze Andersartigkeit auf eine Weise ausleben, die nicht von historischer Unterdrückung geprägt ist. Klasse und Identität müssen vereinbar sein, in der Politik der Gegenwart und der Zukunft. Wenn hingegen Identität gegen Klasse ausgespielt wird, gewinnen die Rechten, die bestehende Klassenwut auf ihre Weise kanalisieren. Die Klassenfrage haben wir so den Rechten überlassen. Gleichwohl können wir auch nicht wie früher bloß die Industriearbeiter als die klassischen revolutionären Subjekte in den Blick nehmen. In meinem Buch spreche ich auch über die junge Generation. 65 Prozent der Pakistaner sind jung. An sie richte ich mich, will vermitteln, dass Angst und Sehnsucht auf dem Mythos beruhen, alle könnten zur Mittelschicht gehören. Das ideale Mittelklassesubjekt gibt es nicht. Unter den herrschenden Bedingungen heißt Aufstieg der einen Abstieg der anderen. Vor allem im Punjab, wo die offizielle Ideologie und der Nationalismus stark sind, möchte ich überzeugen. In Pakistan müssen die arbeitenden Menschen in allen Beschäftigungsverhältnissen, müssen die verschiedenen ethnischen Nationen, müssen Frauen und Transpersonen und – in Pakistan besonders wichtig – müssen Menschen, die außerhalb der offiziellen Definition des Islams stehen, zusammenstehen.

Neben Ihrer akademischen Arbeit engagieren Sie sich in der Awami Workers Party. Was zeichnet diese Partei aus?
Wir sind eine linke Partei. Wir haben uns 2012 gegründet. Wir wollten uns von einem Teil des Sektierertums des Kalten Krieges befreien. Die Partei war also ein Versuch, mit vielen Leuten verschiedener politischer Herkunft eine einheitliche Partei zu gründen. Die Absicht war, einige Debatten in die Linke einzubringen, die vorher nicht geführt worden waren, wie Ökologie oder die Fragen von Feminismus und Patriarchat. So haben wir mehr junge Leute für die Linke interessiert. Zwar konnten wir einige Debatten beeinflussen, aber politische Macht besitzen wir nicht, auch keine parlamentarische Repräsentation.
Haben Sie eine Botschaft an die deutsche Linke?
Wenn wir über die westliche Linke sprechen, lautet die erste Frage immer: Seid ihr euch bewusst, in welchem Maß eure Regierungen Unterdrückung und Ausbeutung in unserem Teil der Welt ermöglichen oder besorgen? Und angesichts der Ereignisse der jüngsten Vergangenheit muss sich die deutsche Linke selbstverständlich zu Palästina verhalten. Für mich als Außenstehenden hat es den Anschein, als würde mangelhaftes Nachdenken über die Prinzipien des Internationalismus den eigenen Fortschritt blockieren. Warum wird der Internationalismus nicht auf die Palästinenser angewandt? Der Internationalismus ist für Linke ein universelles Prinzip. Das Gleiche sage ich auch den pakistanischen Linken, die viel über Kaschmir reden, aber nicht über Belutschistan.
Aasim Sajjad Akhtar lehrt an der Quaid-i-Azam Universität in Islamabad und ist führendes Mitglied der linken Awami Workers Party in Pakistan
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