Von Nakba zu Völkermord
Von Helga Baumgarten
Weltweit gedenken Palästinenser der Vertreibung im Jahre 1948, dem Jahr der Staatsgründung Israels. Damals verloren etwa 750.000 Palästinenser ihre Heimat. Sie wurden mit Waffengewalt und durch zahllose Massaker vertrieben. Immer mehr Informationen aus den israelischen Archiven dringen an die Öffentlichkeit zu eben diesen Massakern mit gnadenlosen und wahllosen Morden an Frauen, Männern und Kindern. Viele Berichte über Vergewaltigungen und anschließende Morde an Frauen und Mädchen werden bekannt, ebenso, dass die damalige israelische Führung unter David Ben-Gurion von Anfang an darüber Bescheid wusste und das Töten von Zivilisten forderte, wie aus dem Tagebuch des Staatschefs hervorgeht. All das kann im Detail in der israelischen Zeitung Haaretz nachgelesen werden.
Das ganze Jahr 1948 war für die Palästinenser eine einzige große Katastrophe, Nakba auf arabisch. Aber was bedeutet die Nakba für Israel, für die Menschen in dem Land? Eigentlich gar nichts. 1948 ist für sie das Jahr der Staatsgründung, der erste große historische Erfolg für die zionistische Bewegung, die Theodor Herzl 1897 in Basel begründet hatte mit eben dem Ziel, einen jüdischen Staat zu etablieren. Die Palästinenser waren in diesem Kontext eigentlich nur eines: ein Störfaktor, der möglichst schnell und ohne international großes Aufsehen beseitigt werden musste. Genau das konnte 1948 erreicht werden.
Die wenigen in Israel verbliebenen Palästinenser wurden unter ein brutales Militärregime gestellt, das bis 1966 andauerte. Auch das nahm kaum ein jüdischer Israeli überhaupt wahr. Der Junikrieg 1967 führte diese Entwicklung fast bruchlos weiter. Neu war, dass nun das gesamte historische Palästina von Israel kontrolliert wurde, »from the river to the sea«. Und auch, dass direkt nach diesem Krieg zwei Stimmen mit schonungsloser Kritik an die israelische Öffentlichkeit herantraten: die marxistische Organisation Matzpen, der jüdische und palästinensische Aktivisten angehörten, und der Philosoph Yehoshua Leibowitz. Letzterer warnte 1967 davor, dass eine andauernde Besatzung die Gefahr in sich berge, dass die israelischen Juden zu Judeofaschisten würden. Matzpen formulierte es noch direkter: Die Besatzung müsse sofort und bedingungslos beendet und die Armee zurückgezogen werden. Denn ein Besatzungsregime würde die Besatzer zu Mördern machen, die wiederum von den Besetzten angegriffen und getötet würden.
Doch Israel hält die Besatzung bis heute aufrecht. Seit dem Angriff der Hamas im Oktober 2023 ist in Gaza ein Völkermord in Gang, in dem Zehntausende getötet wurden. In der Westbank hat ein brutaler Prozess der ethnischen Säuberung und Zerstörung begonnen. In Haaretz schreibt Rafi Walden, dass sich die Prophezeiung von Leibowitz gerade heute bewahrheite: Ein großer Teil der Israelis müsse als Judeofaschisten bezeichnet werden. Es gibt inzwischen zwei konträre israelische Positionen zur Nakba. Die eine, die seitens der Regierung und ebenso im Parlament, in dem die Regierung die Mehrheit hat, vertreten wird, fordert in immer neuen Variationen eine neue Nakba für die Palästinenser. Präziser: Sie fordert sie nicht nur, sie führt eine neue und um vieles tödlichere und brutalere Nakba, einen regelrechten Völkermord durch. Ständig neue Aufrufe fordern die massenhafte Ermordung der Menschen in Gaza, explizit auch der Kinder, zuletzt in der Knesset am Mittwoch: schamlos und in aller Offenheit.
Die zweite Position wird nur von einer winzigen Minderheit vertreten. Es sind einige hundert, vielleicht zwei- bis dreitausend, die gemeinsam mit einigen tausend Palästinensern an die historische Katastrophe erinnern und gegen die fortgesetzte Nakba protestieren. Dafür werden sie stark angegriffen von den Extremisten und der Polizei; verbal und physisch. Die Stimmung heute in Israel reflektiert dies unübersehbar: Die Mehrheit unterstützt den Völkermord in Gaza und betrachtet ihn als legitim. Das gilt im selben Maße für die ethnische Säuberung in der Westbank und die angekündigte Annexion. Davor verschließen die deutsche Regierung und die deutschen Medien bis heute ihre Augen.
Dies ist der 38. »Brief aus Jerusalem« von Helga Baumgarten, emeritierter Professorin für Politik der Universität Birzeit
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (17. Mai 2025 um 13:45 Uhr)Herzlichen Dank an Helga Baumgarten, dass sie uns an Leibowitz’ Begriff vom drohenden Judeofaschismus erinnert hat. Gerade angesichts der Tatsache, dass uns die deutsche Politik zum Schweigen über den von den Herrschenden Israels praktizierten Horror verdonnern möchte, sind klare Worte unendlich wichtig. Und dieses ist eines, das die Grausamkeiten des israelischen Vorgehens gegen die Palästinenser außerordentlich treffend charakterisiert. Und sie in die Reihe jener historischen Geschehnisse stellt, innerhalb derer sie zwangsläufig zu betrachten und zu be-, ja sogar zu verurteilen sind.
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