Am Fließband, im Stahlwerk
Von Gerd Schumann
»Die Eroberung der kulturellen Macht erfolgt vor der Übernahme der politischen Macht. Diese wird durch eine konzertierte Aktion intellektueller ›organischer‹ Aufrufe erreicht. Sie infiltrieren jegliche Kommunikation, jede Ausdrucksform und die akademischen Medien.«
(Antonio Gramsci)
Es muss im Sommer 1970 gewesen sein. Klaus Dieter, genannt Klaudi, ein politisch aufgeweckter Schulfreund, legte auf seinem Philips-Plattenspieler die Nadel des Tonkopfs in die Rille der A-Seite, und die Sonne der Erkenntnis schien in den Alltag einer unbekannten Welt, die ansonsten keinerlei öffentliche Rolle spielte, obwohl fast alle sie kannten, jedoch nur die wenigsten wussten, wie sie funktionierte.
Zugegeben, das mittlerweile antiquarische Album »Fließbandbabys Beat Show« von Floh de Cologne, mit dem alles anfing, habe ich in den vergangenen Jahrzehnten nur noch selten gehört. Dann erfuhr ich am Rande der Rosa-Luxemburg-Konferenz 2024 von Sebastian Köpcke und Claudia Opitz, dass sie mit ihrem »OK Projekt« – nach der Chile-Kantate »Mumien« von 1974 – auch das Fließbandbaby verbildlichen wollten, Visualisierung eines weiterhin hochbrisanten Stoffs. Mit Sicherheit eine Herausforderung der besonderen Art, dachte ich. Aber spannend allemal.
Zu Hause kramte ich folglich ziemlich gespannt die betreffende Vinylscheibe aus dem Plattenregal und erlebte – wieder – eine Art Kulturschock, nur völlig anders als damals. Aus der Zeit gefallen, dachte ich verwundert und erinnerte mich. Offenbar war es mal möglich gewesen, derart klar Text zu sprechen – und das fernab von irgendwelchen oberflächlichen Gaukeleien und der allgemeinen Tendenz zur Verdummung, die von irgendeiner parlamentarischen oder medialen Bühne in die Köpfe gepflanzt wird. Wie heute eben.
Und, verdammt, ich war sogar live dabei gewesen, sah mich plötzlich selbst stehen in der Stadt, in der ich aufwuchs, Ecke Breite Straße/Klosterhof, Eintrittskarten an junge Passanten verkaufen, meist junge Frauen vom Mädchengymnasium »Auguste-Victoria-Schule«, so hieß es, benannt nach einer deutschen Kaisergattin. Andere aus SDAJ und Gewerkschaftsjugend taten dasselbe bei den Lehrlingen an der Kreisberufsschule. Dort wie hier lief es gut, und innerhalb weniger Tage war das Stadttheater mit einigen hundert Plätzen ausverkauft.
Die Flöhe, wie wir sie liebevoll nannten, führten dann die erste deutsche Rockoper »Profitgeier« auf, die Diskussionen im Anschluss waren kontrovers, hitzig manchmal, aber es gab sie, sie waberten durch die städtische Jugendszene und veränderten das Klima weiter. Links sein war sowieso schon in, überall im Land. »Es hat erst angefangen / Wir werden immer mehr«, sangen die Flöhe und setzten fort, was sie zwei Jahre zuvor mit ihrem ersten Politrockstück begonnen hatten. Floh de Cologne damals: »›Fließbandbabys Beat Show‹ war ein Versuch, Jungarbeiter und Lehrlinge anzusprechen.« Rückblickend könnte man auch sagen: Es war der Auftakt zu einem popmusikalisch aufregenden, kreativen, einzigartigen Werk.
Leiser, langsam anschwellender Hammondorgelton im Hintergrund, eine freundliche Stimme wirbt für einen »behaglichen Arbeitsplatz, angenehme Betriebsatmosphäre«. Ein zweiter Sprecher bricht rabiat in die vorgegebene Idylle: »Heute ist mein letzter Arbeitstag in diesem Loch – das sag’ ich euch.« Sprecher eins kehrt zurück, führt die fiktive Protagonistin als Figur ein: »Fließbandbaby war nur zur Volksschule gegangen. Ihr Vater hatte gesagt, dass sie sowieso mal heiratet und dass Arbeiterkinder dümmer sind. Fließbandbaby war damals noch zu jung, um zu kapieren, dass ihr Vater zu wenig Geld hatte, um das zu beurteilen. Nach der Volksschule ging sie in die Schneiderlehre, weil Handwerk goldenen Boden hat. Sie nähte drei Jahre lang Säume und fegte die Werkstatt aus. In der Berufsschule lernte sie, welche Fasern es gibt, und die Scheiße mit dem Bundespräsidenten und dass Arbeit Lebensfreude schafft. Nach der Lehre ging sie in die Fabrik. Da macht es auch keinen Spaß, aber sie kriegt mehr Geld für die Verblödung.«
Der Orgelton schwillt an, Rhythmusgitarre, Schlagzeug, Bass und Sologitarre setzen ein, der Rhythmuswechsel mündet schließlich in den Titelsong »Fließbandbaby, manchmal träum ich«, ein Ohrwurm, und die Geschichte hinter der Fabrikgeschichte erreicht Fließbandbabys Freizeit mit viel Sex und Konsum und deren Auswirkungen auf die Lebensweise generell – Provokation eckt an und kann sogar zu Nachdenklichkeit führen. »Komm mit mir ins Wegschmeißwunderland / Nimm dir einen Wegwerfteller in die Hand / Und einen Einwegdosenöffner auch / Dann gehen wir zu der Einwegkühlbox hin / Und nehmen eine Dose Eintagsschönheit raus.«
Auf dem Cover prangt eine surrealistische Montage in leerem Raum – nackte Babypuppe aus Plastik mit Zehnmarkschein vor dem Kopf, dahinter Auszüge aus Karl Marx’ »Lohnarbeit und Kapital«. Das Buch wird von der Band als Literatur ebenso empfohlen wie Hubert Bacias »Themen zur Sexualität«. Günter Amendts »Sexfront« erscheint gerade, Floh de Cologne dichten: »Wenn hinter dem Ford Capri / Die Sonne versinkt / Und Supermans Kopf / zwischen Supergirls Schenkeln ertrinkt / Dann träumst du den Traum / Vom besseren Leben.«
Das »bessere Leben« führen andere. Vridolin Enxing, Keyboarder und Sänger seit 1974, wird später im Gespräch mit dem Autor Steve Peinemann (»Die Wut, die du im Bauch hast«) sagen, dass Floh de Cologne »schon seit zehn Jahren ›Rock gegen rechts‹« machen. Und in der Tat: Nicht erst, seit sich Rockgruppen um 1980 herum gegen rechts organisierten, gehörte die Auseinandersetzung mit dem Faschismus, insbesondere auch dessen Herkunft als Herrschaftsvariante des Kapitals, zu den zentralen Themen der Gruppe.
*
»Armer junger Krupp / Was kannst du denn dafür / dass du nichts kannst – nix
Armer junger Krupp, dein Vater hat keine Kosten gescheut – und trotzdem nix
Armer junger Krupp, dein Vater war so ein guter Nazi / Und trotzdem nur zwei Millionen im Jahr – für nix
Armer junger Krupp, wär er ein schlechter Nazi gewesen, müsstest du auf den Bau, oh yeah – für fast nix
Armer junger Krupp, zum Glück für dich / dass es Nazis gibt / ein Pech für jeden, dass es keine Sozialisten gibt«
*
Arndt von Bohlen und Halbach – Sohn von Alfried Krupp, dem Stahlindustriellen, Kanonenbauer und seit 1931 Fördermitglied der SS sowie unter Hitler Mitglied des Rüstungsrats beim Reichsminister für Rüstung und Kriegsproduktion – führte ein Jetsetleben zwischen Palm Beach, Kitzbühel, Marrakesch und Sylt und erhielt eine jährliche Apanage von mindestens zwei Millionen Mark. Floh de Cologne schrieben auf ihn, der als Promi durch alle Illustrierten irrte, einen plakativen, dialektischen Text. Der hatte es in sich, weil er deutsche Geschichte in die Scheinwirklichkeit einer seit eh und je von fremder Arbeit lebenden, tumben Protzelite hob. Mehrstimmig im schrägen Harmoniegesang vorgetragen, erzeugt er eine Spannung, die sich – gitarrengestützt – in einem wütenden, aufklärerischen Ahaeffekt lösen kann.
Was die Musik betraf, waren Floh de Cologne spät dran. Genauer gesagt startete die 1966 gegründete Kabaretttruppe aus Köln diesbezüglich so richtig erst mit dem »Fließbandbaby« 1969 durch. Aber wie! Es war die erste Langspielplatte überhaupt auf dem legendären Label Ohr von Metronome (1969–1973), das sich im Zuge der 68er ausschließlich neuen deutschen »Krautrock«-Gruppen wie Birth Control, Tangerine Dream, Embryo, Guru Guru, und Ash Ra Tempel widmete.
Von der deutschsprachigen Politrockband aus Köln verlegte es insgesamt vier Alben: Nach dem »Fließbandbaby« 1971 »Profitgeier«, entstanden auf der Basis von Interviews mit Lehrlingen, die live aufgenommene Doppel-LP »Lucky Streik«, die als »Rock-Jazz-Rakete« beworben wurde und 24 Stunden aus dem Leben eines Streikpostens erzählte. Mit der »Geyer-Symphonie in Rock-Dur Knöchelverzeichnis 4712«, wie die Scherzbolde ihre Multimediaproduktion nannten, beendete Ohr seine Existenz stilgerecht: Ein großer Teil der O-Töne stammte von der Beerdigung des seinerzeit mächtigsten Industriellen des Landes, Friedrich Flick. Die Flöhe kommentierten die Trauerreden aus der Welt von Politik und Kapital respektlos, frech und hintergründig. Insgesamt waren 33 Alben und zwölf Singles auf Ohr erschienen, und irgendwie ließ die Einstellung des Labels ahnen, dass andere Zeiten angebrochen waren, unpolitischere Zeiten.
Die Berufsverbote für Kommunisten im öffentlichen Dienst zeigten Wirkung, in Chile putschte das Militär die Volksfrontregierung Salvador Allendes weg, die internationale Hoffnungsträgerin im Trikont, und errichtete eine faschistische Diktatur, die Flöhe entwickelten in kürzester Zeit ihr »Mumien«-Album, entstanden aus Solidarität und Betroffenheit über die bittere Niederlage des chilenischen Volkes, und verlegten das Album beim Spezialisten für alternative, progressive und weltmusikalisch herausragende Musik, dem vergleichsweise recht kleinen Verlag Pläne in Dortmund. Bis zur letzten Produktion »Faaterland« von 1983 würden dort fünf weitere Alben erscheinen.
Bei Pläne hatte die Plattenkarriere von Floh de Cologne zwei Jahre nach ihrer Gründung begonnen. Die erste LP »Vietnam« entstand in Kooperation mit dem vor kurzem 90jährig verstorbenen Dieter Süverkrüp, Urgestein unter den westdeutschen Liedermachern. Aufgenommen im April 1968, beginnen »alte Klassenschranken« im Bereich der modernen Kunst zu fallen, lösen sich bisherige Disziplinen heimlich auf. So beschreibt der Autor und Fotograf Jens Hagen diese hochpolitische Zusammenarbeit: »Sänger aktueller Lieder verwenden die Mittel des Kabaretts, junge Kabaretts entdecken den politischen Song als Agitationsmittel.«
Das konnte man werten, wie man wollte, und viele – ob der Idee Antonio Gramscis von der »kulturellen Dominanz« folgend oder nicht – hofften, die Eroberung des gesellschaftlichen Raums setze sich in jeder Beziehung, und besonders auch kulturell, fort. Ende der 60er jedenfalls standen die Zeichen nicht nur in Vietnam auf Sieg, auch die Bundesrepublik erwachte aus ihrem postfaschistischen Rausch aus Arbeit und Verdrängung, langsam zunächst, die 68er-Revolten gegen das System hatten im Jahr zuvor mit Protesten gegen den Schah in Westberlin und den tödlichen Schüssen auf Benno Ohnesorg begonnen und setzten sich fort mit Blockaden von Springer-Gebäuden. Franz Josef Degenhardt schlug bei den Internationalen Essener Songtagen unter Beifallsstürmen den Bogen von der listigen Guerilla in Vietnam zur Revolte hierzulande in seinem »Lehrstück der vier Partisanen (Ereignis am Mondfalterfluss)«.
Und Floh de Cologne, die auf diesem – bis dato in Europa größten Festival mit Liedermachern und Rock – ebenfalls aufgetreten waren, erlebten einen innovativen Schub für ihre weitere »Entwicklung und Ausrichtung«, so der Autor Günter Ehnert in seinem Lexikon deutscher Rockgruppen und Interpreten von 1979. Zwei US-Underground-Bands – Frank Zappa (1940–1993) und seine »Mothers of Invention« sowie The Fugs mit Sänger Tuli Kupferberg (1923–2010) – gaben den Anstoß: Wer deren provokative Aufführungen mit den Programmen vergleicht, die die Kölner bis 1983 zwischenzeitlich zur »populärsten«, auch »produktivsten« (Jens Hagen in der DVZ, 6.6.1974) Gruppe machen sollte, kann den Einfluss deutlich heraushören.
Zappa mit seinen typischen Breaks, Tempiwechseln und Querbeet-Stilanleihen, Kupferbergs radikale Bühnenshow: Bei den Essener Songtagen nominierte er beispielsweise ein Schwein als Kandidaten für die US-Präsidentschaft – ein spektakulärer Einfall, der in die von Rebellion und Aufbruch geprägte Landschaft passte. »Unsere musikalischen Vorbilder sind die Mothers of Invention; von der Show her gesehen eher die Fugs, die ich für politischer und showbewusster halte«, meinte Markus Schmidt, Gründungsmitglied und Keyboarder bis 1973. Und natürlich gefährdeten diese Gruppen die »öffentliche Ordnung«.
»Weil es jugendgefährdend wäre, gegen Sitte und Anstand verstoßen und unsere Leser anekeln würde, können hier keine Textproben gebracht werden.« (Reutlinger Generalanzeiger, 24.3.1969) Der Zeitungsrezensent zeigte sich noch im Jahr nach den Songtagen robust verankert in der »Schreckenskammer der deutschen Provinz« (Franz Josef Degenhardt), als er über die erste Vorstellung von Floh de Cologne als Pop-Rock-Beatband außerhalb Kölns im Reutlinger »Theater in der Tonne« schrieb. Dabei bediente er unter der Schlagzeile »Schmutz aus Köln« die überkommene Gesellschaft, die sich bereits inmitten eines Transformationsprozesses befand – auch auf dem weiten Feld der Kunst und Kultur, mit Floh de Cologne mittendrin. Die kommentierten ihr siebentes Programm, das erste »in Pop« mit selbstgebauter Verstärkeranlage, mit deren Hilfe das Publikum scharenweise aus dem Saal getrieben wurde. »Es war ein Programm gegen ›die Alten‹, antiautoritär vom Scheitel bis zum Pimmel.« (aus: »Profitgeier und andere Vögel«) Die Zeit des Kabaretts im bürgerlichen Theaterrahmen war brachial beendet worden.
Die Rebellion erreichte mit Floh de Cologne als Avantgarde, zu der international Zappa und Kupferberg schon seit Jahren gehörten, nunmehr die Gefilde der populären Musik auch hierzulande, oder besser gesagt: Die Rockmusik versuchte sich auf deutsch – ein kurz zuvor noch kaum denkbarer Schritt. Einige Beatbands sangen nicht mehr in der Muttersprache des Rock und Blues, verwurzelt in den Kulturen der Unterdrückten.
Die verbreitete Musik für die Massen dagegen bestand überwiegend aus Herz-Schmerz-Schlager-Heile-Welt, die mit Operette und Blauer-Bock-Schunkelei angereichert wurde und sich auf den Schützenfesten und an den Stammtischen fortsetzte. Dort hinein zeckten die »Flöhe« mit dem Sturm und Drang einer breiten außerparlamentarischen Bewegung im Rücken die vor allem in den USA und England angestoßenen popkulturellen Veränderungen.
»Was der Floh de Cologne bringt, ist das wahrscheinlich zur Zeit Beste und Stärkste, was in der Bundesrepublik noch irgendwie mit Kabarett zu tun hat.« (Süddeutsche Zeitung, 20.8.1969) Am 12. Oktober 1969 hat »Fließbandbabys Beat Show« im Kölner »Workshop« Premiere. Die Flöhe engagierten sich politisch »und waren plötzlich gar kein Kabarett mehr. Eher die rüdeste Action-Theatergruppe der BRD«. Der Floh de Cologne hat sich »in den letzten beiden Jahren vom Studentenkabarett zur politischen Organisationsgruppe verwandelt … « (NRZ, 14.12.1970)
Sie wurden für das Love-and-Peace-Festival auf Fehmarn Anfang September 1970 engagiert. Es sollte eine Art »zweites Woodstock« werden. Sexunternehmerin Beate Uhse sponserte das Festival und verteilte Kondome, es regnete in Strömen, der Wind fegte über die Ostseeinsel, schon beim Kartenvorverkauf hatte sich angedeutet, dass die Rechnung der drei Veranstalter, die offensichtlich die schnelle Mark machen wollten, nicht aufgehen würde: Statt, wie kalkuliert, mindestens 60.000 kamen insgesamt 25.000.
Jimi Hendrix, der zwölf Tage danach starb, kassierte sicherheitshalber die 70.000 Mark Gage vor seinem Auftritt und gab, wie Rio Reiser berichtete, ein »gutes Konzert«, erhielt aber lediglich »müden Beifall«. Floh de Cologne dagegen »bekam viel Applaus« (Wikipedia) und wurden sogar bezahlt. Dieter Klemm: »Wir hatten vertraglich vereinbart, dass wir die Hälfte der Gage vor der Reise nach Fehmarn aufs Konto bekamen und dass die andere Hälfte am Vorabend in Fehmarn ausgezahlt wird. Und so geschah es. Wir waren also eine der wenigen Gruppen, die das vereinbarte Honorar erhielten.«
Rio Reiser (1950–1996), der großartige Sänger der neben den Flöhen und den Schmetterlingen (gegründet 1969) bekanntesten deutschsprachigen Politrockband Ton Steine Scherben (1970), berichtete vom bitteren Ende: »Wir legten los. Zuerst ›Alles, was uns fehlt, ist die Solidarität‹, dann ›Wir streiken‹, die Massen waren begeistert. Das ermutigte mich zu dem Satz: ›Haut die Veranstalter des Festivals ungespitzt in den Boden!‹ Tosender Applaus. Der dritte Song war ›Macht kaputt, was euch kaputt macht!‹ Dabei brach das Inferno aus. (…) Die Container der Festivalleitung wurden angegriffen. Als wir den letzten Akkord spielten, brannte es lichterloh.«
Im oberfränkischen Sulzbach-Rosenberg, dem Standort der Maxhütte, brannte Ende des Jahrzehnts natürlich nichts außer dem Feuer in den Hochöfen, in denen Stahl geschmolzen wird. Floh de Cologne sahen sich über viele Monate dort um, die »fünf Langhaarigen aus Preußen« (Enxing) redeten mit Gott und der Welt. »Wir waren mit der Zeit integriert.« So entstand »Koslowsky«, die zweite Rockoper, die wie »Profitgeier« auch bei Amiga verlegt wurde.
Darin gehört das Epos »Prinzessin auf der Nadel« zum Besten, was die deutsche Rockmusik hervorgebracht hat. Der Text stammt von Peter Maiwald (1946–2008). Er porträtiert die Umstände, die eine junge Frau aus Sulzbach in die Droge als »Ausweg« führt. »Sie trug sehr dünne Häute / Da geht durch jeder Wind / Da gehen auch die Tage durch / Die scharf wie Papiergeldscheine / Und kalt wie Brotmesser sind«. Die Ballade endet tödlich für die Prinzessin. »Und sie flog aus ihren Augen / bis ans Ende der Welt / Da gibt’s kein Kämpfen und kein Schlagen / Keine Ellenbogen und kein Geld«.
Uraufgeführt an zwei Abenden im Dezember 1979 im Saal der Gaststätte »Josefshaus«, gewerkschaftlich unterstützt wie manche andere Floh-Produktion, erreichte sie auch die Belegschaft des Stahlwerkes – bis spät in die Nacht unterhielt ich mich danach mit einem Stahlwerker bei gutem bayrischen Bier. Im Betrieb hatte er so einiges mitbekommen von der Vorgeschichte. Das Programm steht für die Brillanz, die Floh de Cologne musikalisch wie textlich im Laufe der Jahre erreicht hatten, erhielt den deutschen Kleinkunstpreis und wurde fürs Fernsehen aufgezeichnet. Ins erste Programm schaffte es »Koslowsky« nicht, aber immerhin in mehrere dritte.
Das war alles andere als selbstverständlich, und wie andere Linke damals hatten die Flöhe besonders bei Hörfunk und Fernsehen einen schweren Stand. So hatte Werner Höfer, NSDAP-Mitgliedsnummer 2.129.383, nunmehr Fernsehdirektor des WDR, im Zusammenspiel mit Programmdirektor Peter Scholl-Latour 1971 die vertraglich vereinbarte Ausstrahlung von »Profitgeier« verboten.
Letztlich gingen unsere mehr oder weniger erfolgreichen Versuche, für eine neue Gesellschaft zu werben, unter im Sog, den die alte Ordnung immer noch in der Lage ist zu entwickeln, und verschlang nach und nach auch den rebellischen Zeitgeist. Wir hielten zwar noch recht lange durch, einige machten bis heute weiter, und Jüngere kamen hinzu, doch der Wind hatte sich für alle gedreht. »Wende« nannte man das 1983, als sich Floh de Cologne auflösten, geistig-moralische Wende.
Die Flöhe mit Hansi Frank (dr.), Dick Städtler (git.), Dieter Klemm (Sprache), Vridolin Enxing (keyboards) und Theo König (sax; 2017 verstorben) hatten sich 17 Jahre lang eingemischt. Gründungsmitglied Gerd Wollschon (verstorben 2012) war 1976 ausgeschieden, neben Markus Schmidt weitere. Insgesamt hatten sie 1.572 Auftritte in neun Ländern gespielt, darunter in der DDR zwei Tourneen, mehrfach auf dem Festival des politischen Liedes und bei den X. Weltfestspielen. Sie entwickelten 15 Programme und packten ihr Equipment persönlich in 324 Städten aus, darunter auch zweimal bei uns in der Provinz. Ich erinnere mich, als sei es gestern gewesen.
25.5., 18 Uhr, Kino Babylon, Berlin, Rosa-Luxemburg-Platz:
Das »OK Projekt« zeigt »Fließbandbabys Beat Show« von Floh de Cologne erstmals in visueller Fassung sowie die Chile-Rockkantate »Mumien«. Susann Witt-Stahl (Melodie & Rhythmus) im Gespräch mit Dieter Klemm und Dick Städtler (Floh de Cologne). Ab 20.30 Uhr: TV-Live-Mitschnitt der Rockoper »Koslowsky«. Unterstützer: junge Welt und Melodie & Rhythmus.
Unser Autor Gerd Schumann lebt in Berlin und Mecklenburg. Für die junge Welt schreibt und arbeitet er seit über zwei Jahrzehnten. Zahlreiche Buchpublikationen, darunter »Patrice Lumumba« (Papyrossa, 2024), »Basiswissen Kolonialismus« (Papyrossa, zweite Auflage 2024), »Kaiserstraße. Die Geschichte des deutschen Kolonialismus« (Papyrossa, 2021), »Wollt ihr mich oder eure Träume? Joschka Fischer« (Das neue Berlin, 2021) und »Thomas Sankara« über das Leben von »Afrikas Che Guevara« (Papyrossa, 2025). Schumann schrieb zuletzt an dieser Stelle am 29./30.3.2025 über Eric Clapton: Überlegungen zum 80. Geburtstag des weißen Bluesgitarristen.
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