Leserbrief zum Artikel Kommentar: Die Selbstgerechte
vom 10.04.2021:
Ohne roten Faden
Ob man Frau Wagenknechts Vorstoß als »rechtssozialdemokratisch« bezeichnen kann? Gerade wirtschaftlich gesehen, würde der SPD heutzutage im Traum nicht mehr einfallen, was sie in den 50er bis 70er Jahren forderte und tat. Und laut Frau Wagenknecht war diese Zeit ja der Weisheit letzter Schluss. Was ihre Thesen auf jeden Fall nicht sind: sozialistisch. Weder ihre »Gemeinwohl«-Thesen, die auch aus liberaler Feder stammen könnten, noch ihr ganzer Vergangenheitsfetischismus in Sachen Sozialdemokratie in der BRD. Die Probleme, die sie aufwirft, sind diskutierenswert insofern, als man sich fragen kann, ob die Linke, Partei und »Bewegung«, die Basis (die ökonomischen Verhältnisse) zugunsten einzelner Probleme im Überbau vernachlässigt. Diese Kritik sollte aber aus marxistischer Perspektive und nicht aus romantischen Gefühlen für eine vergangene Zeit kommen. Zumal der Hauptgrund für alle Probleme, die in dem Werk aufgebracht werden, m. E. nach in zwei Worten zusammengefasst werden kann: fehlendes Klassenbewusstsein. Und ist es nicht die Aufgabe sogenannter linker Politiker, den Leuten dieses Bewusstsein zu bringen, die Massen anzuleiten? Hat zumindest Lenin behauptet. Aber was sind sozialistische Klassiker gegenüber inhaltsleeren Schlagwörtern wie Gemeinschaft und Gemeinwohl? Im übrigen finde ich das Buch stilistisch furchtbar. Jeder Unterpunkt ist maximal anderthalb Seiten lang, die Sätze so kurz wie möglich, ein roter Faden fehlt. Es wirkt wie ein in letzter Sekunde geschriebener Artikel für den Springer–Verlag in extra lang.
Veröffentlicht in der jungen Welt am 20.04.2021.