Leserbrief zum Artikel Kommentar: Die Selbstgerechte
vom 10.04.2021:
Gerade rechtzeitig
Da kam ja das neue Buch von Sahra Wagenknecht zur rechten Zeit, um einen Schlag gegen Ihre Spitzenkandidatur in NRW auszuteilen. Habt das Kreuz und lasst die Angeklagte und Ausgestoßene selbst zu Wort kommen, damit sich der Leser eine eigene Meinung bilden kann! Sahra W.auf dem Landesparteitag NRW: »Nein, ich rechne nicht mit meiner Partei ab, das Gegenteil ist der Fall: Mein Buch ist ein Plädoyer für eine starke Linke und eine Analyse der Ursachen, weshalb die meisten linken und sozialdemokratischen Parteien in Europa in den zurückliegenden Jahren den Rückhalt bei ihrer einstigen Wählerschaft verloren haben. Die Wandlung der linken Parteien, die Geringverdiener und Benachteiligte immer weniger erreichen, ist eine Fehlentwicklung, für die der bekannte französische Ökonom Thomas Piketty in seinem jüngsten Buch ›Kapital und Ideologie‹ umfassende Belege anführt. Es sollte uns nicht gleichgültig lassen, dass die Bundesregierung und vor allem die Union im öffentlichen Ansehen aktuell einen Tiefpunkt erreicht haben, eine Mehrheit der Bevölkerung sich laut Umfragen eine sozialere Politik wünscht und ausgerechnet unsere Partei von dieser Entwicklung nicht im Geringsten profitiert, sondern bei sieben bis acht Prozent stagniert. Mein Buch enthält Vorschläge für ein linkes Programm, mit dem wir meines Erachtens wieder mehr Menschen erreichen könnten. Ich kritisiere die sogenannte Identitätspolitik, die objektiv die Spaltung sozialer Gruppen bewirkt, welche auf gemeinsame Kämpfe und Solidarität dringend angewiesen sind. Da jetzt versucht wird, mit aus dem Zusammenhang gerissenen Zitaten einen falschen Eindruck zu erwecken, zitiere ich einfach mal, wie ich am Anfang des Buches beschrieben habe, was in meinen Augen den Kern linker Politik ausmacht: ›Links, das stand einmal für das Streben nach mehr Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit, es stand für Widerständigkeit, für das Aufbegehren gegen die oberen Zehntausend und das Engagement für all diejenigen, die in keiner wohlhabenden Familie aufgewachsen waren und sich mit harter, oft wenig inspirierender Arbeit ihren Lebensunterhalt verdienen mussten. Als links galt das Ziel, diese Menschen vor Armut, Demütigung und Ausbeutung zu schützen, ihnen Bildungschancen und Aufstiegsmöglichkeiten zu eröffnen, ihr Leben einfacher, geordneter und planbarer zu machen. Linke glaubten an politische Gestaltungsfähigkeit im Rahmen des demokratischen Nationalstaats und daran, dass dieser Staat Marktergebnisse korrigieren kann und muss. Natürlich waren Linke immer auch Teil der Kämpfe gegen rechtliche Diskriminierungen, etwa der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung der fünfziger und sechziger Jahre. Denn der alte liberale Imperativ, dass niemand aufgrund seiner Hautfarbe, Religion oder Lebensweise benachteiligt werden darf, war für sie selbstverständlich. Aber als Linke legten sie Wert auf die Erkenntnis, dass rechtliche Gleichstellung noch lange keine gleichen Lebenschancen garantiert. Denn anders als Liberale und Konservative sahen Linke in der Macht über große Finanz- und Betriebsvermögen und in der extremen Ungleichheit der Verteilung solcher Vermögen eine Schlüsselgröße, ohne deren Veränderung echte Chancengleichheit und Leistungsgerechtigkeit nicht möglich sind.‹ (Seite 23f) Das ist, kurz zusammengefasst, meine Vorstellung von linker Politik, und das war auch der Gründungskonsens unserer Partei. Wie man daraus machen kann, ich sei gegen den Schutz vor Diskriminierung, ist mir schleierhaft. Um es klar zu sagen: Selbstverständlich muss eine linke Partei gegen Diskriminierungen eintreten, alles andere wäre falsch. Und selbstverständlich gilt die Programmatik unserer Partei, die sich allerdings immer als pluralistische Partei verstanden hat. Zudem finde ich eine Diskussion über die Schwerpunkte wichtig und wir alle sind verpflichtet, immer auch nach neuen Antworten zu suchen, um mehr …«
Veröffentlicht in der jungen Welt am 13.04.2021.