Unter Strom gesetzt
Von Wolfgang Pomrehn
Scheinbar widersprüchliche Nachrichten aus China: Zum einen gehen neue Kohlekraftwerke im Rekordtempo ans Netz, zum anderen nehmen die Treibhausgasemissionen ab. In der ersten Jahreshälfte 2025 waren es neue Anlagen mit einer Leistung von 21 Gigawatt (GW), so viel wie seit 2016 nicht mehr. Bis zum Jahresende könnten es sogar 80 GW werden, berichtet des Centre for Research on Energy and Clean Air in Helsinki. Zur Einordnung: Wenn diese 80 GW rund um die Uhr zur Verfügung stünden, wären sie in der Lage, Deutschlands gesamten Strombedarf abzudecken.
Dieser Kraftwerksbau hört sich nach schlechten Aussichten fürs Klima an. Entsprechend fand die Berliner Zeitung auch Ende August ein paar »Experten«, die darin einen Beleg für eine »›sinnlose‹ Energiewende in Deutschland« sehen wollten. Soll heißen: Weil China Kohlekraftwerke baut, sollte das dicht besiedelte Deutschland weiter Dörfer und wertvolle Ackerböden für die Braunkohle zerstören. Eine umwerfende Logik.
Immerhin fiel aber auch dem Berliner Blatt auf, dass die chinesischen Kohlendioxidemissionen trotz der vielen neuen Kohlekraftwerke zurückgehen. Im ersten Halbjahr 2025 lagen sie ein Prozent unter denen des Vorjahreszeitraums, berichtet die Plattform Carbon Brief. Hält dieser Trend an, würde China sein Versprechen vorzeitig erfüllen, den weiteren Anstieg seiner Emissionen bis 2030 aufzuhalten. Das wären nicht zuletzt gute Nachrichten für die diesjährige UN-Klimakonferenz, die im November im brasilianischen Belém stattfinden wird, denn das würde die Position der sich für mehr Klimaschutz einsetzenden Länder stärken.
E-Auto-Boom
Doch wie kann es sein, dass die Emissionen trotz einer Rekordzahl neuer Kohlekraftwerke zurückgehen? Das hat vor allem drei Gründe. Zum einen ist der Rohölverbrauch seit 2020 abgesehen von leichten Schwankungen trotz rasch wachsender KfZ-Flotte nahezu konstant. Das liegt daran, dass immer mehr Fahrzeuge einen Elektromotor haben. 2024 fuhren bereits 13 Prozent der in China verkauften Lkw und 14 Prozent der Lieferwagen elektrisch. Bei Bussen betrug der Anteil nach Angaben des International Council on Clean Transportation schon fast 100 Prozent. Bei den Privatautos ist die Entwicklung ebenfalls erheblich weiter als hierzulande: Rund die Hälfte der über zehn Millionen in der ersten Jahreshälfte neu zugelassenen Pkw waren E-Autos. Ende Juni 2025 kamen knapp 37 Millionen der auf Chinas Straßen fahrenden Pkw ohne Benzin und Diesel aus, berichtet die Nachrichtenagentur Reuters.
Der zweite Grund: Seit Jahren geht die Zement- und Stahlproduktion zurück. Beides sind weitere wichtige Kohlendioxidquellen. Auch wenn begonnen wurde, die Emissionen der verbleibenden Werke zu reduzieren, ist der Produktionsrückgang sicher kein Ergebnis gezielter Klimaschutzpolitik. Vielmehr ist er Ausdruck der anhaltenden Krise im Immobiliensektor und des nachlassenden Booms der Infrastrukturprojekte, mit denen die Volksrepublik in den vergangenen drei Jahrzehnten modernisiert wurde. In dieser Zeit wurde unter anderem die Länge des Eisenbahnnetzes verdreifacht und das weltweit längste Netz für Hochgeschwindigkeitszüge geschaffen. Außerdem wurden über 300 U‑Bahn-Linien in Betrieb genommen und natürlich unzählige Fabriken, Stahlwerke, Straßen, Krankenhäuser, Hochschulen und ähnliches gebaut. Schließlich kamen einige hundert Millionen neuer Wohnungen in den gewaltig expandierenden Städten hinzu. 1995 betrug der chinesische Urbanisierungsgrad nur knapp 30 Prozent und wuchs bis 2024 auf etwas mehr als 66 Prozent an. War China in den 1990er Jahren noch eine überwiegend dörfliche Gesellschaft, so leben heute zwei Drittel der rund 1,4 Milliarden Chinesen in den Städten.
Beeindruckendes Ausbautempo
Schließlich werden Kohlekraftwerke zunehmend weniger ausgelastet, daher wird ungeachtet neuer Kraftwerke insgesamt weniger Kohle verbrannt. Obwohl der Strombedarf weiter kräftig steigt, geht der Anteil der Kohlekraftwerke an der Erzeugung zurück. In diesem Jahr wurde das anhaltende Verbrauchswachstum bisher nahezu vollständig von neuen Solar- und Windkraftanlagen abgedeckt. Der Kohleimport war hingegen geringer als in den Vorjahren, und auch die heimische Förderung ging zurück.
Entsprechend ist das Ausbautempo der neuen Technologien atemberaubend und stellt alles bisher dagewesene in den Schatten. Im Mai, schreibt das US-Wirtschaftsmagazin Quartz, wurden zum Beispiel rechnerisch gesehen 100 Solarpaneele pro Sekunde installiert. In der ersten Jahreshälfte kamen Solaranlagen mit einer Leistung von 212 GW hinzu. Die im ersten Halbjahr errichteten Windräder liefern 50 GW. Zum Vergleich: In Deutschland waren bis Ende August insgesamt 101,1 GW Solar- und 75,3 GW Windleistung am Netz.
Insgesamt wurden in China inzwischen etwas über 1.000 GW Solarleistung installiert, wobei in letzter Zeit vor allem der Aufbau kleiner, dezentraler Anlagen auf Wohnhäusern und Fabriken stark zugelegt hat. Zugleich werden auch große Summen in verschiedenste Speichertechnologien investiert, um Sonnen- und Windstrom auch in dunkleren und windarmen Zeiten zur Verfügung stellen zu können. Zum Beispiel wird nördlich von Shanghai in der Provinz Jiangsu gerade das weltweit größte Druckluftspeicherwerk gebaut. In einem solchen wird Luft unter hohem Druck mit elektrischen Pumpen in einen unterirdischen Hohlraum gepresst. Bei Bedarf wird diese wieder abgelassen, wobei sie eine Turbine antreibt und so 60 bis 70 Prozent des Stroms zurückgewinnt. Ein anderes Beispiel für eine innovative Speicherlösung ist ein Schwerkraftspeicher, wie er ebenfalls zur Zeit in der gleichen Küstenprovinz in Form eines 35 Stockwerke hohen Gebäudes errichtet wird. In dem sollen zunächst 1.000, später einmal 12.000 Betonblöcke à 25 Tonnen je nach Bedarf hoch- und runterbewegt werden. Für das Anheben wird Energie benötigt, die beim Herablassen wieder abgegeben wird.
Noch ein weiter Weg
Alles in allem stellen die erneuerbaren Energien in China inzwischen einen wichtigen Teil der Volkswirtschaft dar. Laut Quartz tragen sie inzwischen zehn Prozent zum chinesischen Bruttoinlandsprodukt bei und helfen damit dem Land in Zeiten des Zollstreits mit den USA und eines anhaltend kriselnden Immobilienmarktes. Einen wichtigen Anteil daran hat sicherlich auch der Export der entsprechenden Technologien. Für viele davon, etwa Solarzellen, Lithiumakkus und Elektrofahrzeuge, ist China inzwischen Weltmarktführer.
Alles in allem haben Wind und Sonne aber auch in China – trotz des rasanten Ausbautempos – noch einen weiten Weg vor sich. Nach Angaben von Ember, eines Thinktanks, der sich mit erneuerbaren Energieträgern beschäftigt, lieferten sie 2024 im Land der Mitte knapp 18 Prozent des Stroms. Weitere 2,1 Prozent wurden mit Biomasse und 13,6 in den zahlreichen Wasserkraftwerken des Landes produziert. Der Anteil der Kohle betrug hingegen 58,2, der von Gas drei und der von Atomkraft 4,4 Prozent. Soll das Ziel erreicht werden, die chinesische Wirtschaft bis 2060 klimaneutral umzubauen, muss das gegenwärtige Ausbautempo noch viele Jahre beibehalten werden.
Wolfgang Pomrehn hat Geschichte, Meteorologie und Geophysik studiert und arbeitet als freier Journalist.
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