»Das wichtigste Anliegen muss der Friedenskampf sein«
Von Marc BebenrothIhre Eltern, die jüdischen, kommunistischen Widerstandskämpfer Ettie und Peter Gingold, bekämpften den Hitlerfaschismus bis zum Schluss. Sie überlebten die Herrschaft der Nazis. Welchen Einfluss hatten die Erfahrungen des – kommunistischen – Widerstandes auf die Entwicklung in der BRD?
Silvia Gingold: Unsere Eltern wurden immer wieder gefragt, warum sie nach zwölf Jahren der Emigration in Frankreich, wo sie im Widerstand gegen Hitler täglich ihr Leben riskierten, Gefängnis und Folter durchleiden mussten, Angehörige in den Gaskammern in Auschwitz verloren, warum sie in das Land der Täter zurückkehrten. Sie taten dies in der Hoffnung und aus der tiefen Überzeugung, ein neues, ein demokratisches, antifaschistisches Deutschland aufbauen zu helfen. Denn wer, wenn nicht die überlebenden Antifaschisten, konnte dazu beitragen?
In den Worten unseres Vaters: »Wir glaubten, in einer Gesellschaft leben zu können, in der man offen seine Gesinnung, auch die sozialistische und kommunistische, zeigen und auch für diese eintreten kann, ohne diskriminiert, benachteiligt und verfolgt zu werden.« Die Überlebenden des barbarischen NS-Regimes schworen: »Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg!«. Das war der Grundkonsens nach dem Kriegsende, der auch das Grundgesetz vor 76 Jahren prägte. Niemals mehr sollte von deutschem Boden Krieg ausgehen.
Wir erleben eine mit enormem Tempo forcierte Aufrüstung. Im Regierungslager wird eine Gefahr aus dem Osten heraufbeschworen, gegen die Deutschland und Europa sich verteidigen müssten. Wenn auch die politischen Vorzeichen heute andere sind, denken viele zurück an das letzte Mal, als Deutschland gegen Russland rüstete. Was ist von den Lehren aus dem Zweiten Weltkrieg und aus der faschistischen Diktatur noch geblieben?
Alice Czyborra: Es ist unglaublich, mit welcher Geschwindigkeit die »Kriegstüchtigkeit« des Boris Pistorius umgesetzt wird. Nur drei Beispiele der letzten Tage für die weitere Militarisierung unseres Landes NRW: die feierliche Einweihung des Rheinmetall-Werkes für Tarnkappenjets in Weeze, das erste öffentliche Gelöbnis vor dem Landtag in Düsseldorf und die Vorbereitung der gigantischen Rüstungsmesse 2026 in den Essener Messehallen. Dies alles, um den Feind Russland »abzuschrecken«. Die Aussage von Außenminister Wadephul »Russland wird immer ein Feind für uns bleiben« kann nicht eindeutiger die Russophobie dokumentieren. Sie überbietet noch Hass- und Hetzkampagnen gegen Russland unter der Adenauer-Regierung der 50er Jahre.
Wie schmerzhaft wäre es für unsere Eltern, dies heute zu erleben. Die Rote Armee hatte mit Stalingrad den Nimbus der Unbesiegbarkeit der deutschen Wehrmacht gebrochen. Sie war der Lichtblick und Hoffnungsträger für den Widerstand, für die vielen Menschen im Untergrund, für die Häftlinge in den Konzentrationslagern und Zuchthäusern. In seinen Erinnerungen hat unser Vater beschrieben, wie unser Großvater in seinem Versteck in einem Vorort von Paris BBC und Radio Moskau hörte und den Vormarsch der Roten Armee mit Stecknadeln auf der Landkarte markierte. Mit welcher Brutalität die deutsche Wehrmacht in der ehemaligen Sowjetunion wütete, verbrannte Erde hinterließ, den Tod von über 27 Millionen Sowjetbürgerinnen und -bürgern zu verantworten hatte, war im offiziellen Gedenken an den 80. Jahrestag der Befreiung von Faschismus und Krieg kein Thema. Der Ausschluss der Vertreterinnen und Vertreter Russlands von den Gedenkfeiern zeugt von einer unglaublich beschämenden Geschichtsvergessenheit. Diejenigen, die an die größte Opferzahl der Roten Armee zur Befreiung von Faschismus und Krieg erinnerten, wurden dagegen diskriminiert und drangsaliert.
Ohne den Angriff Russlands gegen die Ukraine und die ständigen Bombardierungen rechtfertigen zu wollen, sehe ich mit Blick auf die unsägliche deutsche Geschichte die Bundesregierung in der Verantwortung, richtungsweisend für Europa alles zu tun, um den Krieg zu beenden, sämtliche diplomatischen Schritte zu unternehmen. Statt dessen liefert die Bundesregierung immer mehr Waffen in die Ukraine und trägt zur weiteren Eskalation bei. Sie schürt Ängste vor einer angeblichen Bedrohung durch Russland, ähnlich wie im Vorfeld beider Weltkriege des letzten Jahrhunderts. Dem zu widerstehen, brauchen wir eine starke Friedensbewegung, wie sie von den überlebenden Antifaschistinnen und Antifaschisten in der Nachkriegszeit bis in die 80er Jahre geprägt wurde.
Krieg und Imperialismus kehren an die »Heimatfront« zurück und wenden sich gegen die Bevölkerung: In europäischen Staaten werden Oppositionelle wegen des Protests gegen einen von israelischen Soldaten verübten Genozid in Gaza verfolgt. In den USA werden Menschen von staatlichen Agenten aufgegriffen und verschleppt. Sollte der Tag der Erinnerung und Mahnung im 80. Jahr seit 1945 nicht auch diesen Menschen gelten?
Czyborra: Wir Deutsche tragen eine besondere Verantwortung für die Existenz des Staates Israel, haben doch viele Jüdinnen und Juden durch Flucht nach Palästina ihr Leben retten können und im späteren Israel eine neue Heimat gefunden. Auch unsere Großeltern mütterlicherseits und weitere Familienangehörige sind als Überlebende des Holocaust nach Israel ausgewandert.
Die Bundesregierung spricht von »Staatsräson«, wenn Deutschland aufgrund seiner Geschichte, des Mordes an über sechs Millionen jüdischen Menschen, bedingungslos sowie ohne Wenn und Aber fest an der Seite Israels steht. Ist das nicht eine Instrumentalisierung des Holocaust? Verkehren wir nicht die Lehren aus unserer bitteren Geschichte ins Gegenteil, wenn jede Kritik am ungeheuerlichen Vorgehen der israelischen Regierung, des Militärs, wenn Proteste gegen die seit Jahrzehnten andauernde Besatzungspolitik und deren bedingungslose Unterstützung durch die Bundesregierung, wenn dies als »antisemitisch« kriminalisiert und zum Schweigen gebracht wird?
Unser Vater hat dazu geschrieben: »Gegenüber dem Verbrechen der Nazis haben viele geschwiegen. Wer aus Schuldgefühl heraus gegen Unterdrückung und Vertreibung der Palästinenser durch Israel schweigt, hat nichts gelernt. Verbrechen muss nicht erst das Ausmaß eines Völkermordes haben, damit Kritik berechtigt erscheint.« Ich finde es unerträglich, dass der Protest an Universitäten, auf Demonstrationen und Kundgebungen mit dem Etikett »Antisemitismus« behaftet wird. Mitgefühl und Solidarität mit der palästinensischen Bevölkerung und die Forderung, keine Waffen mehr nach Israel zu liefern, haben nichts mit Judenhass zu tun. Wir stehen an der Seite der Bewegungen in Israel, die für sofortigen Waffenstillstand, Beendigung des Krieges und die Rettung der noch lebenden Geiseln eintreten. Wir stehen an der Seite der Friedensbewegung Israels.
Wie verhält es sich mit dem wirklichen Judenhass?
Dem wachsenden Judenhass, dem Antisemitismus in unserem Land zu begegnen, liegt in unserer besonderen Verantwortung. Anschläge auf Synagogen, Schändungen von Gedenkstätten und Stolpersteinen, Verharmlosung des Holocaust oder gar Angriffe auf Jüdinnen und Juden erschüttern uns immer wieder. Es darf nicht zugelassen werden, dass in Deutschland lebende Jüdinnen und Juden für die verbrecherische Politik der israelischen Regierung verantwortlich gemacht werden. Nicht wenige Menschen mit jüdischen Wurzeln demonstrieren Seite an Seite mit Palästinenserinnen und Palästinensern für Frieden in Gaza, für ein gleichberechtigtes und menschenwürdiges Leben des palästinensischen Volkes.
Die Organisationen, die derzeit zu Aktionen zum 80. Tag der Erinnerung und Mahnung aufrufen, wollen das Gedenken an die Opfer der Nazis mit »wichtigen Debatten der Gegenwart« verbinden. Welche Debatten sollten das aus Ihrer Sicht sein?
Gingold: Das wichtigste Anliegen am Tag der Erinnerung und Mahnung muss der Friedenskampf sein. Unter Mitwirkung von Antifaschisten findet sich im Artikel 69 der Hessischen Verfassung ein klares Friedensgebot: »Hessen bekennt sich zu Frieden, Freiheit und Völkerverständigung. Der Krieg ist geächtet. Jede Handlung, die mit der Absicht vorgenommen wird, einen Krieg vorzubereiten, ist verfassungswidrig.«
Die Widerstandskämpfer, die den faschistischen Terror, Konzentrationslager und Zuchthäuser überlebten, leisteten unschätzbar wertvolle Arbeit in ihrem unermüdlichen Ringen gegen das Vergessen. Unseren Eltern, die in unzähligen Schulen, Seminaren, Jugendorganisationen und Gewerkschaften von ihren Erlebnissen und Erfahrungen während des Faschismus berichteten und damit viele junge Menschen bewegten, war es wichtig, dass die nachfolgenden Generationen erkennen, wie unentbehrlich für die eigene Gegenwart und Zukunft die Erfahrungen der Überlebenden des antifaschistischen Widerstandes sind. Sie ermutigten viele junge Menschen, sich einzumischen gegen Naziideologie, Rassismus, Nationalismus und Militarismus.
»Niemand von uns, den Überlebenden«, so meinte unser Vater im Jahr 2005, »konnte sich vorstellen, dass es in diesem Land je wieder Aufrüstung, Militär, Militarismus, geschweige denn wieder deutsche Waffen und Soldaten in aller Welt geben könnte.« Unsere Eltern hätten es sich auch nicht vorstellen können, dass heute fast jeder zweite Euro in Militär und Rüstung fließt und in allen gesellschaftlichen Bereichen die Menschen auf Militarisierung und »Kriegstüchtigkeit« eingestimmt werden. Immer wieder appellierte unser Vater: »Ihr riskiert heute, wenn ihr euch gegen Rassismus und Ungerechtigkeiten wehrt, nicht das, was wir damals riskieren mussten. Aber macht das rechtzeitig, damit ihr nicht morgen das riskieren müsst, was wir damals zu riskieren hatten.«
Auf welche Erfahrungen und Spuren des Widerstandes gegen die Nazis können heutige Antifaschistinnen und Antifaschisten dabei noch Bezug nehmen?
Gingold: Die bitterste Erfahrung der Antifaschisten, die sie teuer bezahlen mussten, war die Uneinigkeit der Kriegs- und Hitlergegner. Erst im illegalen Widerstand, im Zuchthaus und KZ haben sich die Verfolgten verständigt und niemanden mehr gefragt, wer er sei, aus welcher Partei oder Organisation er komme. Aber es war zu spät. Die Folgen waren schrecklich. »Würden die Toten des Zweiten Weltkriegs auch nur einen Augenblick auferstehen können, es wäre ein einziger Aufschrei von Millionen: ›Wiederholt unsere Fehler nicht, macht es besser, steht zusammen. Erhaltet die Gemeinschaft eurer Friedensbewegung, damit ihr nicht wie wir zu einer Gemeinschaft von Toten werdet‹«, mahnte unsere Mutter auf der großen Friedenskundgebung im Bonner Hofgarten im Oktober 1983.
Immer wieder mahnten unsere Eltern, und sie würden es heute eindringlicher denn je tun: »Die Faschisten sind nicht an die Macht gekommen, weil sie stärker waren als ihre Gegner, sondern weil wir uns nicht rechtzeitig zusammengefunden haben. 1933 wäre verhindert worden, wenn alle Hitlergegner die Einheitsfront geschaffen hätten.« Für uns heute muss das bedeuten, Trennendes zu überwinden, um im Kampf um die Verteidigung des Asylrechts, gegen Rassismus und Gewalt, gegen die gigantische Aufrüstung und für soziale Gleichheit in breiten und machtvollen Bewegungen zusammenzufinden.
Am 9. September 1945 zogen Hunderttausende zur Werner-Seelenbinder-Kampfbahn in Berlin-Neukölln, um eine Massengedächtnisfeier für die »toten und lebenden Helden, die Kämpfer gegen den Faschismus« zu ehren, wie es auf einem Plakat von damals heißt. Die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten, kurz VVN-BdA, sieht sich in dieser Tradition. Welche Entwicklung hat die Vereinigung aus Ihrer Sicht in den vergangenen Jahrzehnten vollzogen?
Gingold: Wichtig für die Entwicklung der VVN war die Öffnung für nachgeborene Generationen, um so die Tradition der antifaschistischen Erinnerung in die heutige Zeit zu überführen. Heute, da die Widerstandskämpfer und Gründer der VVN ihre Erfahrungen nicht mehr direkt weitergeben können, bedarf es großer Anstrengungen, den vielen neuen Mitgliedern, die in den letzten Jahren der VVN-BdA beigetreten sind, ein Verständnis für die historischen Traditionen dieser Organisation zu vermitteln. Dabei müssen wir auch auf ihre Vorstellungen von antifaschistischer Arbeit angemessen reagieren und neue Formen der Erinnerungsarbeit entwickeln, bei der junge Menschen aktiv mitwirken können. Ende März 2025 hatten wir in Kassel eine eindrucksvolle Gedenkveranstaltung zum 80. Jahrestag der Ermordung italienischer Zwangsarbeiter in Kassel, bei der Schülerinnen und Schüler aus Frankfurt mit großer Emotionalität ihre Recherche zu den dort Ermordeten vortrugen. Dieses Beispiel zeigt: Gedenken ist auch für heutige Generationen möglich – genauso wie antifaschistisches Handeln gegen extreme Rechte und die AfD.
Auch wenn es derzeit innerhalb der VVN unterschiedliche Auffassungen über Analysen und Hintergründe der aktuellen Kriege gibt, ist es für mich unerlässlich, Trennendes zu überwinden. Im Sinne ihrer Gründer und des Schwurs von Buchenwald muss die VVN ein wichtiger Teil der Friedensbewegung bleiben.
Alice Czyborra, 1940 im von den Nazis besetzten Paris geboren, und ihre sieben Jahre jüngere Schwester Silvia Gingold sind die Töchter der jüdischen, kommunistischen Widerstandskämpfer Ettie und Peter Gingold. Das Ehepaar floh vor den Hitlerfaschisten ins französische Exil. Nach dem Sieg über den Faschismus wurden sie in Frankreich für ihren Kampf in der Résistance ausgezeichnet. Sie zogen schließlich nach Westdeutschland.
Alice Czyborra engagiert sich gemeinsam mit ihrem Sohn gegen rechts, beispielsweise durch Besuche an Schulen oder Lesungen. Sie hat die Initiative »Kinder des Widerstands« mitbegründet, die sich der Zeitzeugenarbeit widmet. 2022 wurde ihr die Ehrenplakette der Stadt Essen verliehen. Diese soll ihr jahrzehntelanges Engagement unter anderem in der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen (VVN-BdA) würdigen. Silvia Gingold war Sprecherin der VVN-BdA in Hessen und ist seit ihrer Jugend antifaschistisch engagiert. Sie kämpft als Betroffene gegen Berufsverbote und wehrt sich seit Jahren juristisch gegen die Beobachtung durch den Geheimdienst.
Tageszeitung junge Welt am Kiosk
Die besonderen Berichterstattung der Tageszeitung junge Welt ist immer wieder interessant und von hohem Nutzwert für ihre Leserinnen und Leser. Eine gesicherte Verbreitung wollen wir so gut es geht gewährleisten: Digital, aber auch gedruckt. Deswegen liegt in vielen tausend Einzelhandelsgeschäften die Zeitung aus. Überzeugen Sie sich einmal von der Qualität der Printausgabe.
links & bündig gegen rechte Bünde
Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.
Ähnliche:
Boris Roessler/picture-alliance / dpa15.02.2024Im Knast seit 25 Jahren
Jens Schulze31.01.2024Die Maschine abschalten
Omar Sanadiki/REUTERS12.10.2018Weltunordnungskrieg
Mehr aus: Inland
-
Gegen Krieg und Doppelmoral
vom 13.09.2025 -
Gemeinsam gegen Genozid
vom 13.09.2025 -
Gerupfter Gesetzentwurf
vom 13.09.2025 -
Ministerpräsident a. D. sagt ade
vom 13.09.2025 -
Flüssig in die Tarifrunde
vom 13.09.2025 -
Milliardenverluste durch Tarifflucht
vom 13.09.2025 -
»Wir setzen nicht auf die Justiz oder Verwaltungsakte«
vom 13.09.2025