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Aus: Ausgabe vom 13.09.2025, Seite 5 / Inland
Sozialstaat

Milliardenverluste durch Tarifflucht

DGB stellt Bilanz vor: Nur die Hälfte der Beschäftigten tarifgebunden, jährlicher Schaden von 123 Milliarden Euro für öffentliche Daseinsfürsorge
Von Luca von Ludwig
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Eine flächendeckend bessere Entlohnung würde auch die Einzahlungen in die Sozialversicherungen erhöhen

Einsparen. Kürzen. Streichen. Das war der Grundtenor der Sozialstaatsdebatte in den zurückliegenden Wochen. Dabei könnte man ja auch mal die Geldbeschaffung diskutieren. Wie der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) in seiner am Freitag veröffentlichten »Tariffluchtbilanz« darlegt, entgehen der öffentlichen Daseinsfürsorge jedes Jahr erhebliche Mittel schlicht dadurch, dass Millionen von Arbeitern in untertariflich bezahlten Jobs schuften. Entsprechend wird weniger in die Sozialversicherungen eingezahlt, und auch die Kaufkraft leidet.

Auf 123 Milliarden Euro beziffert der DGB den jährlichen Verlust – mehr als ein ganzes Sondervermögen, sozusagen. Für den Vergleich nehmen die Gewerkschafter eine Tarifbindungsquote von 100 Prozent an und verrechnen diese mit den tatsächlichen Zahlen. Datengrundlage ist dabei eine dem Gewerkschaftsbund exklusiv vom Statistischen Bundesamt (Destatis) zur Verfügung gestellte Erhebung. Bereits 2023 waren kaum die Hälfte aller Beschäftigungsverhältnisse tarifgebunden, woran sich laut Destatis seitdem auch nichts geändert hat.

Liegt die tarifvertragliche Abdeckung unter 80 Prozent, sieht das EU-Recht die Ausarbeitung eines »Nationalen Aktionsplans« vor. Das Bundesarbeitsministerium verwies gegenüber jW auf die Konsultationen zur Erarbeitung eines solchen, die zum Monatsanfang beendet wurden. Bislang bestehen diese nur aus den Stellungnahmen der Gewerkschaften und Unternehmerverbände. Der Inhalt wird kaum überraschen: Erstere wollen staatliche Anreize für die Tarifbindung, die Kapitalseite, beispielhaft hier die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, meint, »Tarifzwang oder politische Einmischungen gefährden Bestand und Akzeptanz von Sozialpartnerschaft«. Eine Konkretisierung des »Aktionsplans« solle bis Jahresende erfolgen und der EU-Kommission vorgelegt werden, so das Ministerium.

Die Tarifflucht der Konzerne kommt zunächst einmal den Beschäftigten selbst teuer zu stehen. 58 Milliarden Euro pro Jahr hätten die Erwerbstätigen zusätzlich im Portemonnaie, würden Tarifverträge flächendeckend gelten, errechnet der DGB. Knapp 13 Milliarden wären es in den Ost-, mehr als 45 Milliarden in den Westbundesländern. Pro Kopf entspricht das einem durchschnittlichem jährlichen Zugewinn von 3.451 respektive 2.765 Euro in Ost- und Westdeutschland – netto, wohlgemerkt.

Die sekundären Verluste ergeben sich dann durch die ausbleibenden Einzahlungen in die Sozialversicherungen und die geringere Einkommenssteuer. Mehr als 41 Milliarden Euro könnten der Analyse der Gewerkschafter zufolge jährlich mehr zur Finanzierung von Renten, Krankenkassen und der Erwerbslosenversicherung zur Verfügung stehen. Davon entfallen neun Milliarden auf die ostdeutschen und rund 32 Milliarden auf die westdeutschen Länder. Bei der Einkommenssteuer gehen Bund, Ländern und Kommunen demnach jährlich gut 24 Milliarden Euro verloren (Ost: fünf Milliarden, West: 19 Milliarden).

Am selben Tag, an dem der DGB die Berechnungen veröffentlichte, monierte Bundesgesundheitsministerin Nina Warken (CDU) den »enormen finanziellen Druck«, unter dem die Krankenkassen stünden. Eine Lösung könne zwar kurzfristig die Akquise weiterer Mittel aus dem Bundeshaushalt sein. Sollte das nicht reichen, seien aber auch Sparmaßnahmen (sprich: Streichungen von Kassenleistungen) denkbar. Die Krankenkassen wiederum kündigten am Donnerstag eine Klage gegen den Bund an, weil dieser jedes Jahr etwa 10 Milliarden Euro zu wenig für die Absicherung von Menschen im Bürgergeldbezug bereitstelle.

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