Alles oder nichts
Von Dieter Reinisch
Im Osten der Ukraine rückt die russische Armee langsam vor. Aus russischer Sicht geht es seit nunmehr fast vier Jahren im Schneckentempo, aber doch stetig voran – in scheinbar endlosen Kämpfen um verwaiste Dörfer und kleinere Städte. Für beide Seiten geht es auf den Schlachtfeldern der östlichen Ukraine um viel. Worum und warum genau dieser Krieg geführt wird, ist auch andernorts Gegenstand einer anhaltenden Debatte. Für den norwegisch-australischen Politikwissenschaftler Glenn Diesen wird dort um eine neue Weltordnung gekämpft, wie er in seinem zuerst 2024 erschienenen Buch ausführt, das nun im Kasseler Mangroven-Verlag auf deutsch herausgekommen ist. Die beiden Blöcke, die sich hier gegenüberstehen, sind für Diesen einerseits die unipolare Welt, die im Niedergang ist, und andererseits die neue multipolare Welt, angeführt von Russland und China, mit ihrem geographischen Zentrum in Eurasien.
In »Der Ukraine-Krieg und die eurasische Weltordnung« legt er in weitem historischen Bogen vom Beginn der »westfälischen Ordnung« 1648 bis heute dar, dass die Welt »nach 500 Jahren westlicher Dominanz« nun den fortschreitenden Niedergang dieser Dominanz erlebt. Dieser Niedergang wurde laut Diesen herbeigeführt, weil die Neokonservativen in den USA das Ende des Kalten Krieges und den Zusammenbruch der Sowjetunion nicht als Chance zur Neugestaltung einer friedlichen, gerechten und auf Ausgleich basierenden Welt gesehen haben, sondern als willkommene Gelegenheit, ihre uneingeschränkte Vorherrschaft zu etablieren.
Der Ukraine-Krieg sei eine direkte Folge dieser Bemühungen des Westens, erklärt Diesen. Die Ukraine sei in diesem Zusammenhang von einem Brücken- zum Frontstaat umfunktioniert worden. Im Stellvertreterkrieg gehe es nun für beide Seiten »um alles oder nichts«, wie er betont. Über mehrere Kapitel hinweg entwickelt er einen historischen Rahmen der Vorgeschichte des Ukraine-Kriegs. Vieles erinnert beim Lesen an die Überlegungen von Autoren, die in den letzten Jahren zum selben Thema publiziert haben: Jeffrey Sachs, John Mearsheimer, Jacques Baud und Patrik Baab.
Eine zentrale Rolle nimmt das Kapitel über die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) ein. Mit der OSZE sei ein »westfälisches System« des Machtgleichgewichts institutionalisiert worden, das eine umfassende gesamteuropäische Sicherheitsarchitektur repräsentiere, findet Diesen. Die NATO-Osterweiterung habe jedoch das Ziel gehabt, genau diese Sicherheitsarchitektur wieder aufzulösen. Anfang Dezember 2025 erst feierte die Vorgängerorganisation KSZE in der Wiener Hofburg ihren 50. Jahrestag. Geprägt war das Treffen vom Niedergang der OSZE und vom Wunsch westlicher Staaten, Russland und Belarus aus der Organisation auszuschließen.
Das Buch erschien lange vor der Konferenz, doch wird es in diesem Punkt durch die jüngsten Entwicklungen bestätigt: An die Stelle dieser europäischen Sicherheitsarchitektur habe der Ukraine-Krieg eine entstehende eurasische Sicherheitsarchitektur gesetzt, ist die zentrale These der abschließenden Kapitel. »Die eurasischen Staaten stehen an der Spitze des Übergangs zu einer multipolaren westfälischen Weltordnung mit eurasischen Merkmalen«, nennt es Diesen. Um diese Entwicklung doch noch zu durchkreuzen, habe der Westen Russland mit der NATO-Osterweiterung und China mit der voranschreitenden Aufweichung der Ein-China-Politik provoziert.
Anders als ähnliche, zuletzt erschienene Bücher wie »Weltordnung im Umbruch« legt Diesen den Fokus eher auf die Rolle Russlands statt auf jene Chinas. Er sieht in Russland den Motor einer neuen eurasischen Sicherheitsarchitektur. Und die neue Multipolarität ist für ihn eine einfache Rückkehr zum »westfälischen System«. Die eurasische Weltordnung beruhe auf »konservativen Werten«, darunter die »konservative, konfuzianische Philosophie«, die in China an die Stelle der »Ideologie der marxistischen Weltrevolution« getreten sei. Die 2023 lancierte chinesische »Globale Zivilisationsinitiative« ziele, so Diesen, darauf ab, das »westfälische« Souveränitätssystem wiederherzustellen und zu verbessern.
Diesen hat ein informatives Buch vorgelegt, dem nicht durchweg zugestimmt werden muss, um es mit Gewinn zu lesen. Man muss Diesens Thesen über die Multipolarität als Erneuerung des »westfälischen Systems« durch »konservative Werte« nicht teilen – aber es ist offenkundig, dass er in den Ländern, die er als Speerspitze der eurasischen Sicherheitsarchitektur sieht, hohes Ansehen genießt. Das große Interesse zeigte sich Ende Oktober in Minsk: Als einer der wenigen westlichen Teilnehmer stellte er seine Thesen auf der 3. Eurasischen Sicherheitskonferenz in der belarussischen Hauptstadt vor. Zu den Teilnehmern gehörten nicht nur Sergej Lawrow und Alexander Lukaschenko, sondern auch hochrangige Delegationen aus China, dem Iran und Indien. Erklärtes Ziel des jährlichen Treffens in der belarussischen Hauptstadt ist genau das, was Diesen in seinem Buch darlegt: der voranschreitende Aufbau einer neuen, eurasischen Sicherheitsarchitektur.
Glenn Diesen: Der Ukraine-Krieg und die eurasische Weltordnung. Mangroven, Kassel 2025, 332 Seiten, 27,80 uro
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