»Wir müssen das gesamte System in Frage stellen«
Interview: Gabriel Kuhn
Das letzte Mal unterhielten wir uns im Januar 2024. Wir sprachen über Ihren Klimaaktivismus als professioneller Skifahrer. Einen Monat später beendeten Sie Ihre Karriere. Was war passiert?
Schon als wir sprachen, dachte ich nicht mehr daran, bis ich 35 oder 40 alt bin, Skirennen zu fahren. So lange konnte ich mir das nicht vorstellen. Die Routinen sind letztlich immer dieselben: Du reist an die gleichen Orte, fährst die gleichen Strecken und versuchst, um ein paar Hundertstelsekunden schneller zu sein. Von den Plätzen, die du auf der ganzen Welt besuchst, bekommst du letztlich wenig mit.
Außerdem habe mich in dieser Szene nie ganz zu Hause gefühlt. Ich war immer eher ein Außenseiter und suchte nach Kontakten woanders, in Zusammenhängen, in denen ich mich wohler fühlte.
Entscheidend für den Rücktritt zum damaligen Zeitpunkt war jedoch die Gesundheit. Ich musste mich wegen eines Bandscheibenvorfalls einer Operation unterziehen und wusste, dass es einer besonderen Kraftanstrengung bedurfte, um wieder zurückzukommen. Diese Motivation hatte ich nicht mehr. Ohne die Verletzung wäre ich vielleicht noch zwei, drei Jahre länger gefahren.
Es war also nicht so, wie oft kolportiert, dass der Widerspruch zwischen Ihrem Engagement für Klimagerechtigkeit und der Realität des Leistungssports zu groß wurde?
Nein, mein Aktivismus wäre eher ein Grund fürs Weitermachen gewesen. Für mich bot der relative Bekanntheitsgrad, den du als Leistungssportler hast, immer eine Plattform. Ich habe Menschen erreichen können, die ansonsten wenig mit Themen wie Klimagerechtigkeit oder Nachhaltigkeit konfrontiert werden. Ich hatte das Gefühl, etwas bewirken zu können. Diese Plattform, also die Berichterstattung von den Rennen, die Zeitungsberichte, die Talkshows, das ging mit dem Ende der Karriere großteils verloren.
Wieviel haben Sie mit Ihrem Aktivismus im Skisport erreicht?
Ich denke schon, dass wir etwas erreicht haben. Der offene Brief, den wir dem Internationalen Skiverband übergaben, erregte einige Aufmerksamkeit. Sportverbände wurden gezwungen, sich mit unseren Ansichten auseinanderzusetzen. Der Druck, den wir aufbauen konnten, führte zu marginalen Fortschritten, was Skisport und Klimaschutz betrifft, etwa beim Rennkalender, der etwas nachhaltiger gestaltet wurde. Über den Hebel Leistungssport konnten wir auch Menschen erreichen, die für aktivistische Gruppen oder Umwelt-NGOs nur schwer erreichbar sind. Aber heute sehe ich unseren damaligen Ansatz, gesellschaftliche Veränderung herbeizuführen, auch kritischer.
Was ist ihre Kritik am Aktivismus?
Ich glaube, dass wir das gesamte System in Frage stellen müssen. Im Rahmen des Neoliberalismus lässt sich die Klimakrise nicht lösen, und der Leistungssport ist neoliberale Propaganda. Der Leistungssport vermittelt den Eindruck, dass Menschen nur dann etwas wert sind, wenn sie etwas leisten. Auch die Plattform, die ich hatte, war von Erfolg abhängig.
Aus heutiger Sicht denke ich, dass unsere Strategie leicht fehlerhaft war, weil wir die Grundprämisse des Leistungssports nicht in Frage stellten: die Ideologie des Erfolges. Gleichzeitig glaube ich, dass das, was wir taten, trotzdem sinnvoll war. Wir taten das, wozu wir damals in der Lage waren. Rückblickend betrachtet wäre es cool gewesen, auch die Ideologie des Erfolges zu hinterfragen oder damit zu spielen. Aber es ist im Profisport schwierig, das zu tun. Das Leistungsdenken ist so ausgeprägt und allgegenwärtig, dass es fast unmöglich ist, es nicht selbst zu übernehmen. Forderst du es heraus, reibst du dich in ständigen Konfrontationen auf. Alle glauben daran. Und die Medien übernehmen das. Dazu eine Anekdote: In Zusammenhang mit meinem Palästina-Engagement wurde ich medial plötzlich zum »Skistar«, aber als ich noch aktiv war, wurde immer gesagt, ich solle mich nicht so wichtig machen, weil ich doch noch gar keine großen Erfolge vorzuweisen hätte. Als wäre die Kritik, die man formuliert, davon abhängig.
Treibt jemand im Skisport Ihre Arbeit weiter?
Die Organisation, mit der ich zusammenarbeitete, »Protect Our Winters«, gibt es noch. Aber prominente Aushängeschilder? Da fallen mir keine ein.
Ich beobachte den Skisport seit mehr als 40 Jahren und habe ein großes Interesse an Verbindungen zwischen Sport und Aktivismus. Im Skisport gibt es dafür wenige Beispiele, du bist eine große Ausnahme. Warum ist das so?
Der Wintersport wird fast ausschließlich in den imperialen Kernländern betrieben, und dort von einer privilegierten Schicht, die die Leistungsgesellschaft und ein auf Ausbeutung beruhendes Wirtschaftssystem nicht in Frage stellt und entsprechende Denkmuster und Vorurteile verinnerlicht hat. Wir sprechen von einem politisch sehr homogenen Milieu. Für ideologische Ausreißer gibt es dort wenig Platz.
Im Herbst 2025 tauchte Ihr Name wieder in den Medien auf, diesmal in Zusammenhang mit der »Global Sumud Flotilla« nach Gaza. Was ist zwischen Ihrem Karriereende beim Ski und der Reise in den Nahen Osten geschehen?
Nach Ende meiner Karriere konzentrierte ich mich etwa ein halbes Jahr lang auf mein Engagement in der Klimaorganisation »Letzte Generation«. Ich war quasi Vollzeit im zivilen Widerstand aktiv; es war eine sehr prägende Zeit. Doch dann löste sich die Letzte Generation in Österreich auf, der Winter kam und ich versuchte, in meinem Studium weiterzukommen. Gleichzeitig begann ich jedoch, mich mehr mit dem Genozid in Palästina auseinanderzusetzen, was ich eigentlich schon viel früher hätte tun sollen. Aber erst jetzt wurde mir bewusst, worum es überhaupt ging, und was dort geschah. Ich lernte viel über den Kolonialismus und ging auf Demonstrationen, die jedoch oft ein Gefühl der Ohnmacht zurückließen. Im Mai 2025 stieß ich dann zufällig auf einen Aufruf, um am »Globalen Marsch auf Gaza« durch die Wüste Sinai teilzunehmen. Ich entschloss mich spontan dazu, nach Kairo zu reisen, um dabeizusein. Zwar verhinderten die ägyptischen Behörden den Marsch, doch es war inspirierend, eine von 4.000 Personen aus 80 Ländern zu sein, die sich in Kairo versammelt hatten. Wir hatten ein starkes Zeichen gesetzt, und ich lernte viele großartige Menschen kennen. So wurde ich Teil jenes Netzwerks, das begann, die Flottille zu organisieren. Wenn wir auf dem Landweg nicht nach Gaza gelangen konnten, wollten wir es eben auf dem Seeweg probieren. Als ich später die Chance bekam, selbst auf einem der Boote anzuheuern, nahm ich sie gerne wahr.
War Ihre Vergangenheit als Leistungssportler bei der Flottille ein Thema?
Das war nicht wichtig. Ich habe wochenlang sehr intensiv mit Menschen zusammengearbeitet, die davon überhaupt keine Ahnung hatten. Allerdings traf ich tatsächlich einige Leute, die in ihrer Jugend auch Skirennen gefahren waren, teils auf recht hohem Niveau. Es freute mich, in diesem Zusammenhang auf Menschen mit einem ähnlichen Hintergrund und ähnlichen Erfahrungen zu treffen. Es war schön zu sehen, dass sie bei den gleichen Startvoraussetzungen einen ähnlichen Weg wie ich gegangen waren.
Ich kann hinzufügen, dass mir meine Erfahrungen aus dem Skisport während der Reise in manchen Situationen halfen. Wie mussten viel warten, schon am Anfang, bevor es überhaupt losging, und dann wurden wir immer wieder aufgehalten, saßen fest. Oft wussten wir nicht, wie und wann es weitergehen würde – die Informationen, die wir bekamen, waren spärlich. Viele Leute hatten Schwierigkeiten, mit der Situation umzugehen. Die Anspannung war groß, sie wurden ungeduldig, zum Teil aggressiv. Gleichzeitig mussten wir mental darauf vorbereitet sein, dass es jederzeit losgehen kann, quasi auf Knopfdruck. Mir war all das wohlvertraut. Als Abfahrtsläufer bist du es gewohnt, bei schlechtem Wetter in irgendeiner Skihütte zu sitzen, ohne zu wissen, wann das Rennen gestartet wird. Gleichzeitig weißt du, dass du innerhalb von fünfzehn Minuten bereit sein musst, wenn die entsprechende Entscheidung getroffen wird. Das half mir in den Stressmomenten auf der Flottille sehr, und ich dachte: Siehst du, hier hat dir der Leistungssport etwas Positives mitgegeben.
Vom Klimaaktivisten zum Unterstützer des palästinensischen Widerstands – das erinnert an Greta Thunberg, die auch Teil der Flottille war. Ein Zufall?
Nein, das glaube ich nicht. Beides hängt zusammen, auch wenn es einige Zeit dauerte, bis ich das verstand. Dazu hat nicht zuletzt Greta Thunberg beigetragen, die diese Zusammenhänge sehr gut erklärt hat. Die Kämpfe um Klimagerechtigkeit und gegen den Kolonialismus sind eins. Wenn du für Klimagerechtigkeit bist, musst du für Gerechtigkeit im Allgemeinen stehen, sonst wird der Begriff bedeutungslos. In Palästina gibt es seit Jahrzehnten keine Gerechtigkeit.
Das System, das für die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen verantwortlich ist, ist das gleiche System, das den Kolonialismus zu verantworten hat. Wir sprechen vom kapitalistischen Imperium, für das Israel eine wichtige Rolle spielt. Jede Kampagne und jede Aktion, die dieses Imperium schwächt, ist ein Gewinn für die Menschheit ebenso wie für unsere ökologische Mitwelt.
Das Boot, auf dem Sie sich während der Flottille befanden, wurde schließlich von der israelischen Marine aufgebracht, wie knapp 40 weitere Boote auch. Was geschah mit den Menschen, die sich auf den Booten befanden?
Die israelischen Soldaten kamen in der Nacht. Am nächsten Tag hätten wir Gaza erreicht. Doch wir wurden aufgehalten und nach Israel verschleppt. Dort hielt man uns im berüchtigten Gefängnis Ketziot in der Wüste Negev fest. Ketziot ist als »Terroristengefängnis« bekannt, doch wir hatten gegen kein Gesetz verstoßen. Wir wollten nur unser Recht durchsetzen, auf dem Seeweg nach Gaza zu gelangen, und den Menschen dort zu dem Recht verhelfen, Menschen, die auf dem Seeweg zu ihnen kommen, in Empfang nehmen zu dürfen. Die israelische Seeblockade stellt einen Völkerrechtsbruch dar. Auch unsere Verschleppung war illegal.
Wir waren einige hundert Menschen, die in die Wüste gebracht wurden. Manche kamen nach ein paar Tagen frei, andere mussten deutlich länger bleiben. Viel hing davon ab, wie sehr sich Regierungen darum bemühten, ihre Staatsangehörigen freizubekommen. Wir waren zu viert aus Österreich und hatten das Glück, dass es in einem Flugzeug, das die griechische Regierung gechartert hatte, noch Platz gab. Wir durften mitreisen.
Ich war insgesamt fünf Tage im Gefängnis. Die Bedingungen waren menschenrechtswidrig. Aber wir sind immer noch besser behandelt worden als die Tausenden von palästinensischen Häftlingen, die dort einsitzen. Für sie ist das ein Folterknast. Als wir dort waren, gab es 11.000 palästinensische Gefangene, darunter Kinder. Heute sind es immer noch 9.000, trotz angeblicher Waffenruhe und dem ach so tollen Gefangenenaustausch. Viele der dort Eingesperrten sind keines Verbrechens angeklagt und haben keine Rechtsverfahren. Ihre Lage ist fürchterlich.
Sie kamen Anfang Oktober nach Österreich zurück. Was machen Sie jetzt?
Ich konzentriere mich wieder mehr auf mein Studium, irgendwann sollte ich es abschließen. Aber ich bin immer noch in der Palästina-Solidarität aktiv, wenn auch nicht auf dem gleichen Niveau wie die letzten Monate. Ich bin in die Planung einer neuen Flottille im Frühjahr involviert. Ich leiste gerne meinen Beitrag, auch wenn ich dieses Mal wohl eher im Hintergrund agieren werde.
Sind das die gleichen Kreise, mit denen Sie die letzte Flottille geplant haben?
Ja, aber wir versuchen, die Kampagne noch internationaler zu machen und noch mehr Organisationen miteinzubeziehen.
Auf Ihrem Instagram-Profil findet sich auch ein »Antifa«-Tag.
Ich bin in keiner Antifagruppe aktiv, verstehe mich aber als Antifaschist und versuche auch, so zu leben. Nach der letzten Nationalratswahl in Österreich, als eine Koalition der konservativen ÖVP und der ultrarechten FPÖ im Raum stand, nahm ich an Demonstrationen dagegen teil. Ich wurde auch als Redner eingeladen.
Wer hat Sie eingeladen?
Menschen, die wussten, dass es mich gibt. Sie kannten mich aus anderen Kontexten, aber die aktivistischen Kreise überlappen sich.
Wir stehen am Anfang der diesjährigen Weltcup-Saison im alpinen Skisport. Verfolgen Sie die Rennen?
Nein.
Aber Sie wissen, dass Aleksander Aamodt Kilde, einer der erfolgreichsten Abfahrtsläufer des letzten Jahrzehnts, nach langer Verletzungspause wieder Rennen fährt? Das war eine große Sache.
Keine Ahnung. Den Weltcupauftakt habe ich völlig verpasst. Mir wurde erst vor kurzem klar, dass wieder Rennen gefahren werden. Ich war zu Hause bei meinen Eltern, als im Fernsehen der Riesenslalom von Beaver Creek lief. Da sah ich mir ein paar Läufer an.
Wie hat sich das angefühlt?
Es löste schon einiges in mir aus. Ich sah Menschen, mit denen ich viel unterwegs war, und ich wurde an eine Zeit erinnert, die auch viel Schönes hatte. Natürlich kam gleich der Profisportler in mir zum Vorschein: Ich bewerte unmittelbar, wer was richtig oder falsch machte, wie man die Linie besser fahren könnte, wo sich noch ein paar Zehntelsekunden herausholen ließen. Das sitzt sehr tief in mir drinnen und hat lange mein Leben bestimmt. Aber alles wirkte unglaublich irrelevant. Wer zum Schluss gewann, interessierte mich überhaupt nicht.
Zu den Menschen, mit denen Sie viel unterwegs waren: Haben Sie Kontakt zu ihnen?
Wenig. Und wenn ich mit welchen von ihnen spreche, dann sprechen wir nicht über den Skisport, sondern über anderes.
Fahren Sie selbst noch Ski?
Ja, aber hauptsächlich im freien Gelände. Ich gehe gerne Skitouren. In Skigebiete fahre ich nur, wenn die Schneelage keine Alternativen zulässt.
Danke für das Gespräch!
Juli (Julian) Schütter gewann 2019 die Silbermedaille in der Abfahrt bei der Junioren-Skiweltmeisterschaft, fuhr mehrere Saisons im Europacup und in der Saison 2022/23 im Weltcup. Dort machte sich Schütter im Klimaaktivismus einen Namen und war im Februar 2023 federführend, als anlässlich der alpinen Skiweltmeisterschaften in Courchevel dem Internationalen Skiverband FIS ein offener Brief überreicht wurde, der mehr Nachhaltigkeit und Klimaneutralität im Skisport einforderte. Gegenwärtig studiert Schütter Wirtschaftsingenieurwesen und erneuerbare Energien.
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