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Aus: Ausgabe vom 27.12.2025, Seite 3 (Beilage) / Wochenendbeilage

Attentat aufs Allerheiligste

Rosa Luxemburg: Die Forderung nach höherem Anteil der Arbeiterklasse am gesamtgesellschaftlichen Reichtum ist revolutionär. Sie stellt den Kapitalismus in Frage
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Erstmals in der Geschichte der Menschheit sind im Kapitalismus Unsicherheit der Existenz und Armut eine Lebensbedingung der Wirtschaftsordnung. Bild: Weberaufstand 1844. Radierung von Käthe Kollwitz (1897)

Die zweite Methode des Kapitalisten, den Mehrwert zu vergrößern, ist die Herabdrückung des Arbeitslohns. Auch der Lohn ist, wie der Arbeitstag, an sich an keine bestimmten Grenzen gebunden. Vor allem, wenn wir vom Arbeitslohn sprechen, so ist zu unterscheiden das Geld, das der Arbeiter vom Unternehmer erhält, von der Menge Lebensmittel, die er dafür kriegt. Wissen wir vom Lohn eines Arbeiters nur, dass er zum Beispiel zwei Mark täglich beträgt, so wissen wir soviel wie gar nichts. Denn für dieselben zwei Mark kann man in Zeiten der Teuerung viel weniger Lebensmittel kaufen als in Zeiten der Billigkeit; in einem Lande bedeutet dasselbe Zweimarkstück eine andere Lebenshaltung als im anderen, ja fast in jeder Gegend eines Landes. (…)

Was aber die kapitalistische Warenproduktion ganz allein hervorgebracht hat und was zu allen früheren Zeiten gänzlich unbekannt war, das ist die teilweise Nichtbeschäftigung und deshalb Nichtkonsumtion der Arbeitenden als ständige Erscheinung, das heißt, die sogenannte Reservearmee der Arbeiter. Die kapitalistische Produktion hängt ab vom Markt und muss seiner Nachfrage folgen. Diese ändert sich aber fortwährend und erzeugt abwechselnd sogenannte gute und schlechte Geschäftsjahre, -saisons und -monate. Das Kapital muss sich fortwährend diesem Wechsel der Konjunktur anpassen und infolgedessen bald mehr, bald weniger Arbeiter beschäftigen. Es muss also, um in jedem Augenblick die nötige Zahl Arbeitskräfte auch für höchste Anforderungen des Marktes bei der Hand zu haben, ständig neben der beschäftigten Zahl Arbeiter eine beträchtliche Zahl unbeschäftigter zur Disposition in Reserve halten. Die nichtbeschäftigten Arbeiter kriegen als solche keinen Lohn, ihre Arbeitskraft wird ja nicht gekauft, sie liegt nur auf Lager; die Nichtkonsumtion eines Teiles der Arbeiterklasse gehört also als wesentlicher Bestandteil zum Lohngesetz der kapitalistischen Produktion. Wie diese Arbeitslosen ihr Leben fristen, geht das Kapital nichts an, jedoch weist das Kapital jeden Versuch, die Reservearmee abzuschaffen, als Gefährdung der eigenen Lebensinteressen zurück. (…)

Die kapitalistische Warenproduktion ist also die erste Wirtschaftsform in der Geschichte der Menschheit, bei der die Beschäftigungslosigkeit und die Mittellosigkeit einer großen und wachsenden Schicht der Bevölkerung und direkte hoffnungslose Armut einer anderen gleichfalls wachsenden Schicht nicht bloß eine Folge, sondern auch eine Notwendigkeit, eine Lebensbedingung dieser Wirtschaft ist. Unsicherheit der Existenz der gesamten arbeitenden Masse und chronischer Mangel, zum Teil direkte Armut bestimmter breiter Schichten sind zum erstenmal eine normale Erscheinung der Gesellschaft. (…)

Aber wir wissen noch nichts Genaues vom Verhältnis dieser Lebenshaltung der Arbeiter zum gesellschaftlichen Reichtum im ganzen. Denn die Arbeiter können zum Beispiel in einem Falle mehr Lebensmittel, reichlichere Nahrung, bessere Kleidung als früher haben, wenn aber der Reichtum der anderen Klassen noch viel schneller gewachsen ist, so ist der Anteil der Arbeiter am gesellschaftlichen Produkt kleiner geworden. (…) Mit jeder neuen Erfindung der Technik, mit jeder Verbesserung der Maschinen, mit jeder neuen Anwendung von Dampf und Elektrizität in der Produktion und im Verkehr wird der Anteil des Arbeiters am Produkt kleiner und der Anteil der Kapitalisten größer. Der relative Lohn fällt immer tiefer und tiefer, unaufhaltsam und ununterbrochen, der Mehrwert, das heißt der unbezahlte, aus dem Arbeiter erpresste Reichtum der Kapitalisten, wächst ebenso unaufhaltsam und ständig immer höher und höher.

Der Kampf gegen den Fall des relativen Lohns ist (…) nicht mehr ein Kampf auf dem Boden der Warenwirtschaft, sondern ein revolutionärer, umstürzlerischer Anlauf gegen den Bestand dieser Wirtschaft, er ist die sozialistische Bewegung des Proletariats. Daher die Sympathien der Kapitalistenklasse für die anfänglich grimmig bekämpften Gewerkschaften, nachdem der sozialistische Kampf begonnen und insofern sich die Gewerkschaften dem Sozialismus entgegenstellen lassen. (…) Den englischen Arbeitern wurden in den Anfängen des 19. Jahrhunderts die enthaltsamen deutschen Arbeiter als Muster vorgehalten, heute wird umgekehrt der englische Arbeiter, und zwar nicht der enthaltsame, sondern der »begehrliche«, beefsteakessende Tradeunionist, dem deutschen Arbeiter als Musterknabe zur Nachahmung empfohlen. So wahr ist es, dass der Bourgeoisie auch der erbittertste Kampf um die Erhöhung des absoluten Lohns der Arbeiter als eine harmlose Kleinigkeit erscheint gegenüber dem Attentat auf das Allerheiligste – auf das mechanische Gesetz des Kapitalismus zum ständigen Herabdrücken des relativen Arbeitslohns.

Rosa Luxemburg: ­Einführung in die ­Nationalökonomie. ­Berlin 1925. Hier zitiert nach: Rosa Luxemburg: Werke, Band 5. Dietz-­Verlag, Berlin 1974, Seiten 747–762

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