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Aus: Ausgabe vom 29.11.2025, Seite 10 / Feuilleton
Experimental

Island im Nebel

Und eine Kerze im Fenster: Hildur Guðnadóttirs Album »Where to From«
Von Alexander Kasbohm
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Einsam in der Kirche: Hildur Guðnadóttir

Undurchdringlicher grauer Nebel. Das Cello tastet sich behutsam, fast unsicher vor. Ungewiss, ob der Boden auch beim nächsten Schritt noch da ist. Der Eröffnungstrack »Stimm« wiederholt Intervalle und wandelt sie ab, als würde man versuchen, sein Verhalten in unbekannter Umgebung zu kalibrieren. Oder Instrumente stimmen, was ja auch nichts anderes ist als die Synchronisation von Schwingungen. Langsam wird das Auftreten sicherer, selbstbewusster. »Erindi« nimmt diese Stimmung auf, erweitert sie, fügt Elemente hinzu, aber alles behält eine Art weicher Einsamkeit, eine Verwundbarkeit. Auch wenn in »Make Space« Stimmen hinzukommen, die immer wieder die beiden Wörter wiederholen, wirkt das wie ein nachdrücklicher werdender Wunsch, in dieser Einsamkeit zu bleiben. Gleichwohl wie das Bedürfnis, in der Einsamkeit mehr Raum, mehr Luft zum Atmen zu bekommen.

»I Hold Close« erinnert mit seiner eigentümlichen Gleichzeitigkeit von Bedrückung, Unterdrückung und einem wie auch immer gearteten Erlösungsversprechen an Kirchengesänge. Dieses Lösungsversprechen muss keinesfalls religiös sein, erfordert aber eine Art von Glauben. Und sei es der Glaube daran, dass irgend etwas wichtig ist, irgend etwas eine Bedeutung hat. Ein Glaube gibt auch dann Halt, wenn er Irrglaube ist.

Das Album »Where to From« klingt wie ein Soundtrack zu einem nordisch-protestantischen Film. Eine kleine Kapelle im polarumnachteten Island, mitten im schwarzen Lavagestein, irgendwo ein kleines, warmes, goldenes Glühen. Eine Marienerscheinung? Nein, das wäre zu katholisch. Eine Kerze im Fenster? Hervorquellende Lava, die einen Vulkanausbruch ankündigt? Größen und Entfernungen lassen sich in dieser Dunkelheit und diesem Nebel nur schwer bestimmen.

Die filmische Qualität der Musik ist kein Zufall. Sie kennzeichnete Hildur Guðnadóttirs Kompositionen seit Beginn ihrer Karriere vor rund 20 Jahren und führte zu einer Reihe von lukrativen, preisgekrönten Filmmusikaufträgen: Ihr Soundtrack für Todd Phillips’ Film »Joker« wurde mit einem Oscar ausgezeichnet, ihre Musik zur HBO-Serie »Chernobyl« mit einem Grammy. Nebenbei nahm sie mit Bands wie Throbbing Gristle, Pan Sonic und Sunn O))) auf.

Und so gingen seit Guðnadóttirs letztem Soloalbum »Saman« zwölf Jahre ins Land, in denen sie gut beschäftigt war, aber gleichzeitig Ideen sammeln konnte. Sie lässt gerne ihr Unbewusstes arbeiten, während ihr Bewusstsein mit anderen Dingen beschäftigt ist. Die Melodien summte sie auf ihr Handy, wo sie dann erst mal lagen, bis sie Zeit hatte, sich den Fragmenten zu widmen, sie zu sichten, zu kombinieren, auszuarbeiten und mit befreundeten Musikern aufzunehmen.

Vermutlich trugen diese Umstände dazu bei, dass »Where to From« eine Intimität ausstrahlt, die man sich im persönlichen Bereich nur Personen gegenüber erlaubt, denen man bedingungslos vertraut. In einem Kreis, in dem man sich so sicher fühlt, dass man die Masken, die das Überleben im Alltag ermöglichen, ohne Angst fallen lässt und die Emotionen, die von großer Orchestrierung erdrückt, entstellt und entseelt würden, offenbart. Zur Katharsis gelangt man vielleicht am besten nicht durch dramatische Gesten, sondern durch Sensibilität gegenüber den Schwingungen, mit denen das Unbewusste kommuniziert.

Hildur Guðnadóttir: »Where to From« (DGG)

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